Der Schmusechor belebt das „Neu“ in „Neujahrskonzert“

Foto: Hanna Fasching

Mit Verena Giesinger griff sich am 6. Jänner eine Frau den Dirigierstab bei einem Wiener Neujahrskonzert. Fern des Musikvereins schickte der Schmusechor, unterstützt von großteils unterhaltsamen Co-Acts, das WUK-Publikum mit einer warmen Umarmung und einem politischen Statement ins neue Jahr.

Wer ein Ticket für ein Schmusechor-Konzert ergattert, der ersteht auch ganz bewusst Zutritt zu einem queer-feministischen Safe Space. Im großen Saal des WUK stand das Awareness-Team bereit, um bei Übergriffen Unterstützung zu bieten, und nahe des Eingangs nahmen Sanitäter:innen freiwillige Speichelproben für potenzielle Stammzellenspenden entgegen. (Eine lokale Künstlerin sucht nach einem Match für ihre erkrankte Tochter).

Zyniker:innen könnten Scheinheiligkeit vermuten, also die Performance von genau der zeitgeistigen Wokeness, der große Teile der urbanen Gen Z kaum widerstehen können. Dieses Urteil widerlegte Chorleiterin Verena Giesinger, die die Bühne des WUK als Black Swan meets Morticia Addams betrat. Die Dirigentin – auch Schöpferin, Mastermind und Guru des Schmusechors – echauffierte sich mit eloquenter Empörung über das Betretungsverbot für Frauen, das (mit wenigen Ausnahmen) am Dirigierpult der Wiener Philharmoniker zu herrschen scheint. Giesinger ist eine polarisierende Erscheinung, der man nicht nur gerne zusieht, sondern auch glaubt.

Dirigentin und Schmusechor-Urmutter Verena Giesinger in schwarzer Federnpracht (Foto: Hanna Fasching)

Der mittlerweile rund 50-köpfige Chor hat an Stimmgewalt zugelegt. Besonders beeindruckten Soli von Marlene Stocker, die tonsicher und mit Gefühl Billie Eilishs „My Future“ zum Besten gab, und Sebastian Abermanns virtuose Interpretation von Bon Ivers „Heavenly Father“. Einprägsam waren auch Arrangements von Miley Cirus feministischem Herzschmerz-Banger „I Can Buy Myself Flowers“ und Woodkids „Land of All“, begleitet durch das Streichensemble inn.wien.

Die Professionalisierung, die Giesinger und Chorsängerin Lavinia Lanner letztes Jahr im etc.-Interview angekündigt hatten, hat Form angenommen. Der von Billie Eilishs Lyrics inspirierte Slogan „I‘m in Love with my Future“ dominierte nicht nur das puristische Stage Design, sondern schmückte auch den im Vorraum erwerbbaren Merch. Während des rund zweistündigen Auftritts absolvierten Dirigentin und Sänger:innen mehr Outfitwechsel als Jennifer Lopez in ihrer 2020er Super Bowl Halftime Show. Beim Anblick dieser kaleidoskopischen Fashion-Fusion aus Barock-Eleganz und 80s-Disco-Style wäre selbst Lady Gaga vor Neid erblasst.

Marlene Stocker sang „My Future“ von Billie Eilish (Foto: Hanna Fasching)

Das Schmusechor-Neujahrskonzert bot nicht nur den Sänger:innen sondern auch Co-Acts eine Bühne. Berührend war die Performance von tanz.sucht.theater mit Iris Omari Ansong, Yuria Knoll, Vivianne Tanzmeister und Katharina Senk. Die verwirrende Show der Drag Wrestling Crew hätte hingegen von einer deutlichen Kürzung profitiert. Mit ihrem Performanceprojekt Königin der Nacht lieferte Rapperin Myassa Kraitt einen der swag-vollsten Momente des Abends. Die von Magdalena Fischer erdachte, herrlich subversive Videoreihe, die für kommende WUK-Veranstaltungen warb, war ein absolutes Highlight.

Aber trotz stimmig gewählter Co-Acts sollte das nächste Neujahrskonzert mehr Zeit für Schmusechor-Arrangements einräumen. Denn neben der imposanten Show und der politischen Mission, hat der Popchor vor allem musikalisch einiges zu bieten.

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