
Leichtfüßige Pop-Cover, grelle Kostüme, clever verpackte Gesellschaftskritik: So kannte man den Schmusechor bisher. Doch Auftritte auf den großen Bühnen des Landes und der Presserummel rund um ihre Festwochen-Absage haben Österreichs „liebster“ Pop-Gesangsgruppe ein kantigeres Profil verpasst. Dirigentin Verena Giesinger und Sängerin Lavinia Lanner sprachen mit uns über die Evolution des Schmusechors, Cancel Culture und den Mut, die Dinge beim Namen zu nennen.
Edgy. Die Grafikerin, die das neue Selbstverständnis des Schmusechors verbildlichen soll, weiß nicht so recht, was mit dem Wort gemeint ist. Österreichs bekanntester Pop-Chor will weg vom Kuschelchor-Image, hin zur erwachsenen Kunstperformance. Hauptsache raus aus der Schublade, in die man ihn laut Chorleiterin Verena Giesinger gesteckt hat. (Sie weiß, dass sie dieses Image mitkreiiert hat). „Aber manche glauben, die stellt man wo hin und die singen immer gern. Das geht einher mit nicht ganz ernst genommen werden,“ so Giesinger. „Und wir nehmen uns ernst.“
Am Ende der aktuellen Schmusechor-Metamorphose könnte vieles stehen – vielleicht sogar ein Album mit eigenen Songs? Giesinger nennt das „die nächste größenwahnsinnige Idee.“ Und mit denen kennt sie sich aus.
„Ich bin seit acht Jahren Dirigentin,
Verena Giesinger
und check’s erst seit einem Jahr.“
„Das groß Träumen hab ich mir selbst beigebracht,“ sagt Giesinger. Sie wird 1987 in Altach, Vorarlberg, geboren, und kommt für das Musiktherapie-Studium nach Wien. Wobei sie vermutlich so oder so irgendwann in der Hauptstadt gelandet wäre. „Es war ein Ausbrechen. Ich hab mich am Land immer sehr verloren gefühlt und hab mich schon sehr früh nach mehr gesehnt. Nach Inspiration und mutigem Neuem.“ Schon 2012, parallel zu ihrer therapeutischen Arbeit in der Erwachsenenpsychiatrie und einem Kulturmanagementstudium, gründet Giesinger eine erste Mini-Version des Schmusechors. Anfangs trifft sich eine Gruppe guter Freund:innen in ihrem kleinen WG-Zimmer. 2014 entsteht eine professionellere Form des Chors, geleitet von Giesinger, die was das Dirigieren betrifft Autodidaktin ist.

„Ich bin seit acht Jahren Dirigentin und check’s erst seit einem Jahr,“ sagt Giesinger. „Ich hab mir gedacht, dafür muss man den Studiengang Dirigieren abgeschlossen und anschließend mindestens ein großes Orchester geleitet haben.“ Sich Dirigentin zu nennen, in einer Berufssparte mit 10% Frauenquote, noch dazu als Quereinsteigerin, fiel ihr schwer. „Es gibt viele Bereiche, beruflich und privat, bei denen wir gerade vieles neu definieren. Das find ich anstrengend. Ich würde mir wünschen, ich hätte eine 70-jährige Frau, eine Mentorin in meinem Leben, die meinen Weg schon gegangen ist und mir als Rolemodel immer wieder Input gibt. So müsste ich nicht gefühlt die ganze Zeit Pionierinnen-Arbeit leisten.“ Der Vater, der sich früh selbstständig machte, inspirierte sie; die Geigenlehrerin imponierte ihr; eine befreundete Schauspielerin spricht ihr heute noch Mut zu. Ansonsten bahnt Giesinger sich ihren eigenen Weg. Der Antrieb scheint intrinsisch, eine Mischung aus dem unbändigen Bedürfnis, alles so nah und intensiv wie möglich erleben zu wollen, und Perfektionismus. „Ich wollte immer schon aus allem das Beste machen. Und wenn’s das Beste schon war, dann wollte ich noch ein bisschen weitergehen.“
„ ,Alles wird gut‘ ist die größte
Lavinia Lanner
Verschwörungstheorie, die ich kenne.“
Dieses Streben teilt Giesinger mit der bildenden Künstlerin Lavinia Lanner, die seit 2017 im Schmusechor singt. Abseits der Musik ist ihr bevorzugtes Ausdrucksmittel der Bleistift, Stärke 3B. In ihren Zeichnungen von teils organisch, teils geometrisch anmutenden Formen legt sie tausende von präzisen Graphitstrichen übereinander. Wie passt das zum Chorsingen? Die zwei Kunstformen würden sich durchaus ähneln, so Lanner. „Beides lässt Welten entstehen oder erlaubt eine Reflexion über das Erleben. Beim Chor bin ich ein Teil von vielen, da geht es um das Kollektive, das Getragenwerden von anderen. Da kann man sich fallen lassen, und etwas abgeben von der Verantwortung.“ Sie hat es gelernt, den Prozess zu schätzen, mehr als das Produkt. „Alles wird gut ist die größte Verschwörungstheorie, die ich kenne,“ sagt die Künstlerin.
Lanner wird 1985 im oberösterreichischen Vöcklabruck geboren und wächst in Salzburg auf. Die Halbitalienerin studiert Bildende Kunst und Dolmetsch. Ihre künstlerische Laufbahn führt sie über Paris, Göteborg und London. Auch Lanner kennt die besondere Herausforderung künstlerischer Berufe, denen oft eine konkrete Definition fehlt: „Sich selbst und das, was man macht, ernst zu nehmen, ist das Allerschwierigste – aber Allerwichtigste“.
Das Raumnehmen und das Raumschaffen sind auch im Jahr 2023 noch Pionier:innenaufgaben. Und die beinhalten mehr als einen inneren Reflexionsprozess. Lanner und Giesinger kennen die heimische Kunst- und Kulturbranche, und sie wissen um die Notwendigkeit von FLINTA*-Solidarität und Sichtbarkeit. „Wie viele Tabus gibt’s rund um Honorare oder Kooperationen? Transparenz ist so wichtig, damit man Peers stärken und ermutigen kann,“ sagt Lanner. Giesinger stimmt zu: „Da geht’s um ganz einfache Dinge, wie eben keinen 9 to 5-Job zu haben. Das war für mich eine riesengroße, wahnsinnig schwierige Entscheidung: Mir einzugestehen, dass ich nicht in das System, welches die Gesellschaft vermeintlich vorgibt, hinein passe.“
Offenheit war auch eines der Kriterien, nach denen der Chor im Sommer 2022 im Rahmen eines „Speed-Datings“ neue Mitglieder suchte. Dort erlebten die Kandidat:innen das „Schmusiversum“, wie Giesinger es nennt. Konventionelle Castings findet sie furchtbar: „Dass eine Person mir oder dem Chor alleine vorsingt, finde ich ein schreckliches Konzept. Bei uns geht es um Menschlichkeit und gemeinsames Vibrieren und auch um Selbstbewusstsein sowie Performance auf der Bühne.“ Neben einer Gesangsstation durchliefen die Bewerber:innen auch eine Kostüm- und eine soziale Station, um „so ein bisschen die Vibes von den Menschen zu erspüren,“ so Giesinger. Die praktische Verdopplung des Schmusechors auf circa 45 Mitglieder war ein voller Erfolg. Ein intensiver Herbst mit ausverkauften Auftritten im RadioKulturhaus und bei einer musikalischen Lesung im Gartenbaukino gemeinsam mit Autorin Jaqueline Scheiber aka minusgold hat die Gruppe weiter zusammengeschweißt.

© Nina Keinrath
Der Schmusechor hat sich professionalisiert. Bei der Gründung entschied sich Giesinger bewusst gegen einen basisdemokratischen Chor, dennoch gibt es viel Raum für Austausch. Lanner sagt, sie fühle sich als Chorsängerin gehört. Dennoch sei klar, dass Giesinger die künstlerische Leitung innehabe. Der Schmusechor ist nicht mehr der Freund:innenchor aus dem WG-Zimmer. Er ist ein kleines Unternehmen, partizipativ geführt, aber mit Arbeitsteilung. Es gibt Heads of Costume, Make-up, Hair und Press. „Und eine Rechtsabteilung,“ fügt Lanner augenzwinkernd hinzu.
„Dass Yung Hurns Texte aus meinem Mund
Verena Giesinger
kommen sollen, das ist absurd.“
Im Frühjahr 2022 ist der Schmusechor in den nationalen Schlagzeilen. Unter dem Schlagwort „Seximus-Vorwurf“ titelt die Presse: „Festwochen: Wiener Chor verweigert Auftritt mit Yung Hurn“. „Es war absurd,“ sagt Giesinger. „Wir waren mit unserem Statement plötzlich auf vielen österreichischen Medien auf den Startseiten. Mit dieser medialen Aufmerksamkeit haben wir nicht gerechnet.“
Yung Hurn, bürgerlich Julian Sellmeister, ist ein erfolgreicher Wiener Rapper. Seine Texte handeln von Frauen, Drogen, Autos. Sein Track „1220“ (Sellmeister kommt aus dem 22. Wiener Gemeindebezirk Donaustadt) war 2018 wochenlang auf Platz 2 in den österreichischen und deutschen Charts.
Bei den Wiener Festwochen im Mai und Juni 2022 soll der Rapper auftreten. Und der queer-feministische Schmusechor soll mit ihm auf einer Bühne stehen. „Als wir diese Anfrage bekommen haben, war noch nicht klar, was wir mit Yung Hurn machen sollen,“ sagt Giesinger. „Als sich dann herausgestellt hat, dass wir mit ihm seine Lieder singen sollen, haben wir begonnen, ihn, seine Texte und seine Musik intensiv zu recherchieren. Bei zwei, drei seiner Songs wurde es für alle recht schnell klar, dass die Texte – also das aus meinem Mund kommen zu hören, das ist absurd, das geht nicht, und auch mit ihm zusammenarbeiten zu müssen, das waren so Dinge, die wir uns einfach nicht vorstellen konnten.“ In einem öffentlichen Statement schreibt der Schmusechor am 13. Mai 2022: „Wir lehnen es ab, sexistische und rassistische Inhalte unter dem Deckmantel der „Ironie“ oder „künstlerischen Freiheit“ zu tolerieren, zu verbreiten und zu reproduzieren.“
Diese Stellungnahme entstand laut Giesinger in hitzigen Debatten auf einer rasch organisierten eintägigen Klausur in der Wachau. Die Mitglieder des Schmusechors hätten zwar eine ähnliche politische Färbung, aber trotzdem unterschiedliche Ansichten. Als sie schlussendlich den Text auf Instagram veröffentlichten, steckten die Chormitglieder mitten in den Proben für die Nesterval-Theater-Produktion “Sex, Drugs & Budd’n’brooks”. Der Publish-Button wurde gedrückt, dann verschwanden die Sänger:innen im Probentunnel.
© Instagram/schmusechor
„Und dann gehst du wieder raus und öffnest dein Handy,“ erzählt Giesinger. Es ist eine Flut an Presseartikeln, privaten und öffentlichen Unterstützungsbekundungen, und auch Kritik, die sie erwartet. „Da sind Tränen geflossen, weil es für uns teilweise einfach extrem überfordernd war.“ Sie hätten die Situation auch als bedrohlich empfunden. Die Yung Hurn Crowd sei „schon sehr unberechenbar“, und der Schmusechor damals stark medial präsent. „Ich bewundere das sehr, wenn FLINTA*-Personen eine politische Message alleine nach außen tragen,“ sagt Giesinger heute. „Ich kann retrospektiv sagen, ohne unserer Community hätte ich diesen Kampf nicht so gut durchstehen können. Auch familiär bin ich nicht nur auf Verständnis für unsere Absage gestoßen. Da war es total schön, die chosen Family hinter mir zu wissen.“
„Der nächste Schritt nach dem Calling Out ist das Calling In, also das Aufrufen zum Dialog.“
Lavinia Lanner
Für seine Absage erhielt der Schmusechor Zuspruch aus der Künstler:innen-Szene. „Viele haben schon Bühnen vor uns abgesagt, weil sie mit Rappern performen hätten sollten, hinter deren Texte sie nicht stehen konnten,“ erzählt Giesinger. Aber es gab auch Gegenwind. In einem Der Standard-Kommentar hieß es zum Beispiel: „Regisseur David Schalko hat mit dem Programm dieser Eröffnungsbühne einen Diskurs erzwungen. Endlich wird es Thema: Rap ist Teil der Kultur, auch wenn es manchen Eltern, wenn es der Woke-Szene oder Kunstliebhabern […] gar nicht gefällt.“
Es dauert nicht lange, bis die Festwochen-Absage des Schmusechors zum Symbol für Cancel-Culture wird. Das war laut Lanner aber nie das Ziel. „Cancel Culture bezeichnet eine Art Boykott, ein Stillmachen von etwas. Das war nie unsere Intention“. Sie bevorzuge den Begriff Calling Out: „Wir wollen auf etwas aufmerksam machen und Raum für konstruktive Kritik schaffen. Der nächste Schritt nach dem Calling Out ist das Calling In, also das Aufrufen zum Dialog.“ Zu diesem Dialog, zum Beispiel mit dem Festwochen-Organisationsteam, sei es laut Schmusechor aber leider nie gekommen, obwohl sie den Kontakt gesucht haben.
In die „Was darf Kunst“-Debatte ist der Chor unfreiwillig hineingeraten. Eigentlich geht es der Gruppe um die strukturellen Probleme in der Kunst- und Kulturszene. Was musikalische Diversität und Fair Payment in der lokalen Musikbranche betrifft, sehen Lanner und Giesinger Luft nach oben. „Es wird in Österreich eine ganz spezielle Sparte gefördert. Wenn man einmal in den Förderschienen ist, dann ist es leichter, immer wieder Unterstützung zu bekommen,“ sagt Giesinger. Für mehr Vielfalt braucht es ihrer Meinung nach junge Menschen mit diversen Backgrounds an wichtigen Positionen, wenn nötig auch mittels Quoten.
„Das Snack-Game ist very strong.“
Lavinia Lanner
Der Schmusechor ist nach wie vor verschmust, verspielt und hat gerne Spaß. „Oft packt jemand nach einer dreistündigen Probe oder einem Konzert die Gitarre aus und spielt irgendwelche Nummern. Dann gemeinsam rauszugrölen, das macht uns am meisten Freude. Dass wir unheimlich gerne miteinander abhängen, kommt unserem Proberhythmus außerdem sehr zugute”, erzählt Lanner. Außerdem sei das „Snack-Game very strong – sprich nirgends gibt’s so deliziösen Trash zu snacken wie im Schmusechor.“ Trotzdem, die zunehmende Professionalisierung, und vielleicht auch der unerwartete Presserummel, bringen mehr Verantwortung und höhere Erwartungen mit sich – politisch, unternehmerisch, sozial. In intensiven Phasen probt der Chor fünf Mal pro Woche.

© Christine Pichler
Lanner und Giesinger möchten auch andere Nachwuchskünstler:innen dabei bestärken, für sich einzustehen und ihren eigenen Weg zu gehen. Essenziell dafür ist für Lanner Zusammenarbeit: „Klar ist es wichtig, sein eigenes Süppchen zu kochen – aber es zu essen ist gemeinsam schöner. Als Künstler:in kommt man nicht weiter, wenn man sich nur für die eigene Blase interessiert.“ Ohne guten Zuspruch von anderen kann der Mut abhanden kommen. „Es geht so weit, dass man sich selbst nicht zutraut das zu sein, was man eh schon ist,“ sagt Giesinger. Genau das traut sich der Schmusechor. Ab jetzt noch eine Portion edgier.
Anstehende Auftritte des Schmusechors:
15.04. Kulturverein Raml Wirt, Neumarkt, Oberösterreich
05.05. emsiana – Hohenemser Kulturfest, Hohenems, Vorarlberg
13.05. Tischlerei Melk, Melk, Wachau