Wie ich lernte, kompetitiv zu lesen

Lesen gilt, oder besser: galt, außerhalb von Schule und Studium, als entspannender Zeitvertreib. Ein Zeitvertreib, bei dem die lesende Person mit der eigenen Geschwindigkeit und im individuellen Rhythmus vorankommend, den Inhalt eines Buches zu bewältigen versuchte. Je mehr davon danach noch präsent war, desto besser natürlich. Doch mit dem Aufkommen von Apps, bei denen man nicht nur Lesechallenges erstellen kann, sondern diese auch noch mit anderen teilen und dadurch ein gewisses Wetteifern entsteht, wurde auch das Lesen zum Wettbewerb.


Die Überschrift dieses Artikels liest sich zunächst wie aus einem selfhelp guide oder wie der Anfang des Werbetextes einer / eines selbsternannten Lifecoach:in. Doch was dabei nur mitgedacht, und nicht mitgeschrieben ist, ist nicht das erwartete „endlich“, sondern ein resignierendes „leider“. Ursprünglich wollte ich mir lediglich einen Überblick über die von mir gelesenen Bücher verschaffen, diese verwalten oder auch Rezensionen zu ihnen lesen, doch bald sah ich das Unheil in Form der „Reading Challenge“. Im ersten Jahr – 2020 war es sehr leicht, viele Bücher zu lesen – schaffte ich es, das von mir gesetzte Ziel noch mit Bravour zu erreichen. Es fiel mir leicht, die selbsterwählte Zahl an Büchern zu lesen und das Erreichen dieses Ziels motivierte mich auch zu einem gewissen Maße. Doch weder im Jahr darauf noch im gerade zu Ende gegangenen Jahr sollte es wieder funktionieren. Ärgerlich! Nein! Unnötig! Doch ist das Ärgern selbst eigentlich unnötig! Was wiederum meta-ärgerlich ist.

Der App-arat

Im Endeffekt frage ich mich, ob er es Wert gewesen ist, der kurze Triumph. Habe ich mir dieses Jahr wieder eine Reading Challenge gesetzt? Natürlich! Man wird von der App ja auch geradezu dazu genötigt, wenn man diese nicht aktiviert. Und die Emails, die man bekommt, wenn die Freunde ein Buch erfolgreich bezwungen, besiegt haben! Stacheln im Fleisch! Ich übertreibe – ein wenig – aber doch! Es löst in einem ein Unwohlsein aus und aus einem Zeitvertreib, der ja gar nicht persönlicher sein könnte, wird ein Wettlauf. Und was hängt da natürlich dran? Produkte! Guides zum schneller lesen, Leseblogs, Bücher übers Bücher lesen. Zwangsfristig kommt einem Jacques Elluls Prinzip der „Technique“ in den Sinn. Weit mehr als nur Technologie, beschreibt es die gnadenlose Optimierung eines jeden menschlichen Handelns bis zur unausweichlichen Entfremdung.

Lösungen?

Ich denke jenseits des sich selbst Ermahnens und eines bewussteren Umgangs mit Apps und #Bookstagram kann hier nicht wirklich viel von heute auf morgen getan werden. Eine kritische Auseinandersetzung damit, wie diese Medien inhärent Themen beeinflussen – müssen – hilft hier natürlich, die Dinge in Kontexte zu setzen und weg vom individuellen und unguten Gefühl zu einer auch intellektuell befriedigenderen, breiteren Analyse zu finden. Warum wird alles zum Wettstreit? Wer profitiert davon? Was ist Aufmerksamkeitsökonomie? Dazu muss man sich natürlich Zeit nehmen nun natürlich wiederum: Lesen. Auf seine eigene Art. Ohne Stoppuhr und Medaille, weder gegen andere noch sich selbst ist zu lesen, sondern für sich selbst und das eigene Wissen, oder zur Unterhaltung. Wobei natürlich Wissen und Unterhaltung einander nicht ausschließen müssen und keiner der beiden Aspekte sollte beim Lesen gänzlich auf der Strecke bleiben.

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