
Überall in der Stadt, wenn man weiß, wo man hinschauen muss, ist ihr Vermächtnis. In Worten, in Sprache, manifestiert auf Schildern und manchmal auch in Gefühlen. In Eindrücken und Momenten begegnet man Ilse Aichinger.
Es sollte von Anfang an klar sein, dass ein Artikel ihr nicht gerecht werden kann. Sie selbst schrieb passend dazu in „Schlechte Wörter“: „Die wenigsten können sich wehren. Sie kommen zur Welt und werden sofort von alledem umgeben, was sie zu umgeben nicht ausreicht„. Mit diesem Ballast über Bord geworfen, kann man allerdings endlich frei von der Seele weg schreiben. Schließlich bin ich diese Woche auch ganz zufällig wieder mal auf Ilse Aichinger gestoßen, und dass sogar gleich zweimal. Zunächst in einer Sonderausstellung des Naturhistorischen Museums zum Thema Brasilien, hier wurde Aichinger Zitiert, um das Artenaussterben zu illustrieren, und dann schließlich auf der Schwedenbrücke, auf der sie sah, wie ein Teil ihrer Familie von den Nazis auf einen Viehtransporter geladen wurde und deportiert. Beides scheinbar nur zusammenhängend durch die Autorenschaft von Aichinger, aber in Wirklichkeit doch auch darüber hinaus verbunden. Geht doch auch die Zerstörung der Umwelt in Brasilien mit dem andauernden Genozid der indigenen Bevölkerung einher. Der Mensch ist manchmal dem Menschen ein Wolf, der Natur gegenüber ist er das oft auch.
Eine kleine Biografie
Geboren wurde Ilse Aichinger zusammen mit ihrer Zwillingsschwester Helga am 1. November 1921 in Wien und verstarb am 11. November 2016 ebenda. Tochter einer jüdischen Ärztin und eines katholischen Lehrers hat sie selbst ihr Medizinstudium 1945 zum Schrieben ihres Romans „Die größere Hoffnung“, abgebrochen. Während es Aichinger gelang, ihre Mutter zu verstecken, konnte sie ihre Großmutter, Tante und Onkel nicht vor der Ermordung retten. Ihre Zwillingsschwester emigrierte 1939 nach England. In der Nachkriegszeit wurde sie zu einer der wichtigsten Autor*innen des deutschsprachigen Raums, was sich im Zusammenhang mit Aichingers Werk natürlich, wie eine Phrasendrescherei lesen muss, aber dennoch zutrifft, wäre die Literatur ohne ihre schonungslose Selbstkritik dem vermeintlichen Neustart der Kahlschlagliteratur ausgeliefert gewesen.
Kino
Aichinger hatte zeitlebens eine innige Verbindung zum Kino als Ort des Erinnerns und Vergessens, als Ort der unbegrenzten Unmöglichkeiten. Siegrid Nieberle schrieb im „Ilse Aichinger Wörterbuch“ dazu: „Im Kino ist die Autorin ihrer ausgelöschten Familie nah; sie begibt sich an einen Ort, der ihr Ermöglicht das Verschwinden aus der Existenz nachzuvollziehen, eben weil es nicht zu begreifen ist“. Kino nicht nur zu Unterhaltung, sondern zum Beobachten des Verschwundenen und Verschwindens, um dann auch selbst im finsteren Kinosaal zu Verschwinden. Um auch die Metaebene abzudecken sei erwähnt, dass ihrer Liebe zum Kino sind auch ein Film gewidmet worden: „Die Kinogeherin“ (2001, Norbert Beilharz).
Ende?
Da ich keinen besseren Abschluss dieses Artikels finden könnte, möchte ich mit Aichingers eigenen Worten, dem Gedicht, dass auf der Schwedenbrücke verewigt wurde, hier das Geschriebene beenden.
„Winterantwort“ Die Welt ist aus dem Stoff, der Betrachtung verlangt: keine Augen mehr, um die weißen Wiesen zu sehen, keine Ohren, um im Geäst das Schwirren der Vögel zu hören. Großmutter, wo sind deine Lippen hin, um die Gräser zu schmecken, und wer riecht uns den Himmel zu Ende, wessen Wangen reiben sich heute noch wund an den Mauern im Dorf? Ist es nicht ein finsterer Wald, in den wir gerieten? Nein, Großmutter, er ist nicht finster, ich weiß es, ich wohnte lang bei den Kindern am Rande, und es ist auch kein Wald.