
Das Gedicht von Erich Fried „Was es ist“ hat mich zum Nachdenken angeregt: Was ist, wenn wir Angst, Stolz und Vernunft ausschalten könnten – wie würden wir handeln, wie würden wir fühlen, wie würden wir lieben und was könnten wir erreichen?
Seit 31 Jahren lebe ich schon in Wien. Die meiste Zeit davon habe ich im neunten Bezirk verbracht. Manchmal fühlt es sich so an, als würde ich die Straßen, die Gebäude, ja sogar die Hunde und ihre Besitzer:innen, die ich bei ihren täglichen Gassi-Runden im Alsergrund treffe, bereits in und auswendig kennen. Aber Wien hält doch immer wieder Überraschungen für mich bereit. So entdeckte ich gestern auf der Alserbachstraße die Gedenktafel vom österreichischen Lyriker Erich Fried. Darauf steht Frieds Gedicht „Was es ist“.
Was es ist
Es ist Unsinn
sagt die Vernunft
Es ist was es ist
sagt die LiebeEs ist Unglück
sagt die Berechnung
Es ist nichts als Schmerz
sagt die Angst
Es ist aussichtslos
sagt die Einsicht
Es ist was es ist
sagt die LiebeEs ist lächerlich
ERICH FRIED
sagt der Stolz
Es ist leichtsinnig
sagt die Vorsicht
Es ist unmöglich
sagt die Erfahrung
Es ist was es ist
sagt die Liebe
Keine Sorge, es kommt jetzt keine klassische Gedichtanalyse mit Reimschema, Metrum und lyrischem Ich. Das würde nur unsere Schul-Traumata wieder aufleben lassen und dich vermutlich ziemlich langweilen. Deshalb will ich einfach meine Gedanken zu diesen Zeilen mit dir teilen, in der Hoffnung, dass sie dich etwas weniger langweilen werden. Vielleicht geht es dir ja sogar nach dem Lesen genau so wie mir.
Vollbremsung
Kennst du das auch: Du willst etwas cooles starten! Dich für einen neuen Job bewerben, endlich mal eine Reise alleine machen oder dich voll und ganz auf einen Menschen einlassen. Doch dann geht plötzlich deine innere Alarmanlage los, du machst eine Vollbremsung und fühlst dich wie gelähmt.
Alle Emotionen in dir blinken rot und versuchen, dich zu warnen. Die Vernunft lässt deinen Kopf grübeln und brummen. Die Angst fängt an, eine Schutzmauer um dich zu bauen und dich in Watte einzuwickeln. Die Berechnung und die Vorsicht halten einen Vortrag über negative Prognosen und mögliche Horrorszenarien. Die Erfahrung und der Stolz sitzen auf deiner Schulter, lachen dich aus und flüstern dir ins Ohr: Tu es nicht, das ist lächerlich!
Auch in Erich Frieds Gedicht schlagen diese Emotionen Alarm. Doch es gibt ein Gefühl, das es schafft, diese Alarmanlage auszustellen – es ist die Liebe. Die Liebe ist mutig, hoffnungsvoll, verständnisvoll und zärtlich. So setzt sie sich immer wieder gegen die anderen durch.
Vom Säbelzahntiger aufgefressen
Versteh mich nicht falsch, alle Emotionen haben ihren Sinn und ihre Funktion. Vor allem evolutionsbedingt, damit niemand vom Säbelzahntiger aufgefressen wird. Natürlich ist es also gut und berechtigt, auch die anderen Gefühle ihre Argumente vorbringen zu lassen. Um ehrlich zu sein, bin ich auch eine Verfechterin von Pro- und Kontra-Listen und höre mir immer genau an, was die Vernunft zu sagen hat. Und auch die Erfahrung ist eine weise alte Dame.
Wenn das innere Warnsystem aber auf Hochtouren läuft, kann es auf die Dauer ziemlich anstrengend werden und dir vielleicht sogar einige schöne Erlebnisse und wichtige Erkenntnisse im Leben verwehren. Wie gerne würde ich deshalb in bestimmten Situation bei meiner Alarmanlage einfach den Stecker ziehen.

Manchmal frage ich mich, wie es wäre, wenn wir Menschen weniger auf Angst, Stolz und Vernunft hören würden. Wenn die Liebe und die Akzeptanz nicht so oft gegen Windmühlen arbeiten müssten. Wie würden wir dann fühlen? Wie würden wir handeln, uns selbst und anderen gegenüber? Wie würden wir lieben und was könnten wir erreichen?
Wären wir mutiger?
Wären wir mutiger? Wohlwollender? Glücklicher? Oder genau das Gegenteil? Wären wir vielleicht zu waghalsig, überschwänglich, rücksichtslos, egoistisch oder gar unglücklich? Wie wäre das zwischenmenschliche Miteinander, wenn wir mehr akzeptieren und weniger bewerten würden? Denn letztendlich: Es ist was es ist. Oder?
Die Welt ist so, wie wir sie wahrnehmen und empfinden. Nur eine mögliche Sichtweise, die wir aufgrund unserer Prägungen und Erfahrungen haben. Doch wir können uns entscheiden, ob wir andere Perspektiven zulassen und von wem wir Ratschläge annehmen wollen. Ob also die Angst oder die Liebe unsere Ratgeberin des Vertrauens sein soll.
Es ist was es ist. Warum also nicht riskieren, probieren und lieben? Ich bin jedenfalls gespannt, wo in Wien sich der nächste food for thought für mich verbirgt.
Warum nur einige der Emotionen, Gefühle ausstellen? Die, die uns augenscheinlich behindern oder die den Blick auf das Ganze erschweren?
Logik kann mitunter hilfreich sein, aber ohne das Füllhorn der Emotionen ist der Mensch nur halb, oder…?
LG
Maccabros
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