
Unsere Autorin ist am Land geboren und aufgewachsen, und mit 18 in die Stadt gezogen. Sie hatte nicht den Plan zu bleiben, blieb aber trotzdem. Mittlerweile sind es zehn Jahre. Bei vielen Heimatbesuchen bekommt sie die Frage: Wann ziehst du endlich zurück? Hier ihr Versuch einer Antwort.
Anmerkung der Redaktion: Dieser Artikel erschien ursprünglich am 13. März 2020 auf unserer alten Homepage.
Im Mai kamen die Junikäfer. Taumelnd und schwerfällig legten sie sich wie eine braune Decke über unseren Garten. Wir fingen sie ein, im Hohlraum zwischen unseren gewölbten Händen, liebten es und ekelten uns davor, wenn sie mit ihren klebrigen Füßen über unsere Handinnenflächen krabbelten. Manchmal hielten wir ein paar Käfer in Marmeladegläsern, in dessen Deckel wir mit Nägel Löcher bohrten. Ich erinnere mich nicht, ob wir sie später wieder freisetzten, oder ob wir sie irgendwo abstellten, vergaßen und ihrem Schicksal überließen. Wir waren nicht grausam, aber der Tod hatte noch keine Bedeutung für uns. Unsere Eltern waren noch unbezwingbare Götter und hatten kein einziges graues Haar.
Ich bin in einem kleinen Ort im Mühlviertel geboren und aufgewachsen, zwischen der tschechischen Grenze und Linz. Es leben ungefähr 1500 Menschen in meinem Dorf, zumindest ist das die Zahl, die ich in der Volksschule gelernt habe. Vermutlich sind es mittlerweile mehr, wegen der Linzer:innen, die sich hier in der Pension niederlassen; die ein Ferienhaus im Grünen kaufen und zwei Sommer später ihre Stadtwohnungen endgültig aufgeben.
Das Haus meiner Eltern liegt in einer Siedlung etwas außerhalb des Dorfkerns. Als Kind kannte ich auf diesen Quadratkilometern jeden Grashalm, jeden Stein, jede Mulde. Ich kannte nicht den Namen aber die Form der Blätter jedes Strauchs in jedem Garten. Ich kannte jede Ritze in jeder Steinmauer, jeden Riss in den Straßen zwischen diesen sieben Häusern, von denen jedes seinen eigenen, unverkennbaren Geruch hatte. Die Selbstverständlichkeit meines Besitzanspruchs auf diesen Flecken Erde habe ich seither nie wieder für irgendetwas empfunden.

Meine Kindheit am Land war wie ein Astrid Lindgren Roman. Wenn ich mich konzentriere, dann kann ich mich in meinen kräftigen, flinken Kinderkörper zurückfühlen. Ich benützte ihn fürs Klettern, Laufen, Gummihüpfen (Si-si-si, Mitte, no-no-no, Mitte, si, Mitte, no, Mitte, Com-pa-gnon!), und um, falls nötig, meinem Bruder ins Schienbein zu treten. Es war eine Zeit, bevor unsere Körper zum Anschauen da waren. Die Grenze zwischen Fantasie und Realität war so permeabel, dass die wildesten Ideen nur eine wackelige Zeichnung entfernt waren. Schau, Mama, das sind meine sieben Dinosaurier! Schau, Papa, da flieg ich zum Mond!
Besonders frei fühlten wir uns in den Sommerferien, deren Ende wir mit unseren knapp 120cm nicht ausmachen konnten, selbst wenn wir uns auf die Zehenspitzen stellten. In meinen verklärten Erinnerungen berühren meine Kinderfüße nichts als frisch gemähtes, kitzelndes Gras und von der Sonne gewärmten Asphalt. Wir verbrachten ganze Tage in einem glückstaumelnden Zustand des Seins, dem wir heute, zwanzig Jahre später, in unzähligen Yogastunden und Meditationsübungen nachjagen. Fünfhundert herabschauende Hunde für eine Sekunde Kindheitssommerferiengefühl.
Als ich 18 war, zog ich nach Wien. Zum Studieren, wie das so viele machen. Ich hatte Glück, ich war nicht allein, wir waren eine ganze Gruppe. Wir waren Kinder aber fühlten uns um ein Vielfaches erwachsener, als wir es heute tun. Wir lebten in einer magischen Zwischenwelt aus jugendlicher Unverwundbarkeit und dem Anspruch, so ernst genommen zu werden, als hätten wir bereits zehn Leben gelebt.
Diese neue Form der Freiheit schwappte unverhofft in mein kleines Leben und dehnte es irreversibel aus. Diese Freiheit fühlte sich auch weniger stabil an. Wir vertrauten ihr trotzdem, mit spätpubertärem Leichtsinn, balancierten auf dem Drahtseil als wäre da noch immer ein Fangnetz. Ausgelassen auf klebrigen Tanzflächen, in schäbigen Toiletten weinend – ein ungeduldiges Klopfen und Rufen an der Tür, uns an den Händen haltend durch klaustrophobische Menschenmengen, bauten wir, nichts ahnend, etwas, das uns durch die nächsten zehn Jahre bringen würde. Manchmal waren wir verantwortungslos, manchmal schlichtweg dumm. Wir waren so frei. Wir hatten immer Glück.
Nach dem ersten Jahr, in dem mir alles noch etwas zu fremd und zu groß war, in dem ich fast jedes Wochenende nachhause nach Oberösterreich flüchtete, fing es an mir in der Stadt zu gefallen. Eine Weile wehrte ich mich noch dagegen, aber ich hielt nicht lange stand. Irgendwann mochte ich es, dass mich nicht jede:r kannte, dass ich nicht dauernd grüßen musste. Dass ich jederzeit überall hin und alles tun konnte. Dass ich dauernd Menschen traf, die Meinungen hatten und Leben lebten, die in Astrid Lindgren Romanen keinen Platz hatten.
Nun lebe ich seit zehn Jahren in Wien. Ich mag es, in der Einser-Straßenbahn den Ring entlangzufahren, den Blick hin und her zu wenden: links das Burgtheater, rechts das Parlament, links der Volksgarten. Ich mag den secondhand Buchladen in der Garnisongasse mit der verstörenden Schaufensterpuppe; ich mag den kleinen Park zwischen Campus und Hauptuni, in dem ein alter Mann mich einmal schimpfte, weil ich Tauben fütterte; ich mag die hässliche Weihnachtsdekoration in den Bäumen vorm Rathaus. Ich bin keine Wienerin, aber das sind ohnehin nur ein Bruchteil der Menschen, die in Wien wohnen. Auf paradox-schöne Weise gehört Wiener:in-Sein gar nicht zum Wiener:in-Sein dazu.
Ich fahre gern zurück in mein Dorf, für ein Wochenende. Mittlerweile fühlt es sich mehr wie ein Besuch an als Nachhausekommen. Meine Siedlung, die früher aus sieben Häusern bestand, besteht nun aus zwölf. Dort, wo ich geheime Botschaften vergraben und Löwenzahnstängeln in Wasserkübeln beim Einkringeln zugeschaut habe, sind neue Häuser aus der Erde gewachsen. Am Marktplatz haben viele Gebäude andere Fassaden. Statt der Floristin gibt es einen Kebab-Laden, und auf der stark befahrenen Hauptstraße endlich einen Zebrastreifen.

Nicht alles hat sich verändert. Wenn ich mit meinen Eltern in die Kirche gehe, dann zähle ich immer noch die Stellen, an denen sich die Steinstreben an der Decke kreuzen. Das Zurren der Kühltheke beim Fleischhauer erinnert mich daran, wie ich mich als Kind nach vorne gebeugt habe, um mir die angebotene Extrawurst-Rolle vom Spieß der Verkäuferin zu fischen, meine abgeschürften Knie gegen das kühle, metallene Abstellbrett gedrückt. Im Freibad legen sich die Kinder nach dem Schwimmen immer noch auf den von der Sonne aufgeheizten Steinboden neben dem Becken. Genau wie wir früher, brutzeln sie dort, wie Koteletts am Grill, träge und zufrieden im Anfangsstadium des Sonnenstichs. Wenn sie sich nach Stunden endlich aufstemmen, dann wischen sie sich, wie wir, kleine Kieselsteinchen vom verschwitzten Bauch.
Wenn ich den Kilometer vom Marktplatz nachhause gehe, stetig bergauf, am Ortsschild vorbei, dann wächst links langsam meine Siedlung aus dem Horizont, und rechts das, was vom Wald nach dem Sturmtief Kyrill übriggeblieben ist. Diesen Weg bin ich zehntausend Mal gegangen. Tapsig, als Zweijährige, an der rechten Hand meiner Mama und der linken Hand meines Papas, manchmal haben wir Müller, Müller Sackl gespielt. Dann als Volksschülerin, die Kinderhände fest die Träger meines überdimensionalen Schulranzens umfassend, im Winter zwischen meterhohen Wänden aus Schnee. Später ins Freibad, zum Marktfest, zu Freundinnen, zur Bushaltestelle. Ich bezweifle, dass es in Wien einen Kilometer gibt, den ich annähernd so oft gegangen bin. Irgendwo in meinem Gehirn muss es ein Netzwerk an Neuronen geben, in dem jeder Schritt dieses Wegs für die Ewigkeit abgespeichert ist.
Ich bin ein Landkind und eine Stadterwachsene. Ob diese Labels Bedeutung haben, weiß ich nicht. Wie für alle anderen auch, ist für mich der Ort, an dem ich leben möchte, ein Gefühl, von dem ich langsam vermute, dass es unerreichbar ist: der Hybridzustand absoluter Freiheit und absoluter Sicherheit. Das Kindheitssommerferiengefühl. Manchmal blitzt es für eine Zehntelsekunde auf, beim Shavasana, oder an einem lauen Abend am Yppenplatz, oder wenn ich nachts diesen Kilometer zwischen dem Ortsschild und dem Haus meiner Eltern gehe, über mir der Sternenhimmel und unter mir unzählige, unsichtbare Schichten aus Abertausenden meiner Schritte.