Sommer in Wien – Kontextualisierung einer Zeitlosigkeit

© Midjourney AI, Prompt „Summer in the Lost Future“

Der Sommer ist in den Großstädten eher weniger reizvoll verortet, viel lieber flüchtet man aufs Land, in die Berge oder ans Meer. Doch Wien ist selbst trunken-rührselig nah am Wasser gebaut und sonst auch nicht der schlechteste Ort die brütend heiße Jahreszeit zu verbringen. Ein Versuch, den Sommer in Wien zu verorten, zu verzeitlichen.


Dass die Gegenwart der Abwesenheit eine immense Präsenz hat, wussten schon einige, nicht nur Jacques Derrida. Umso interessanter ist das Phänomen Sommerloch, diese scheinbar ewig langgezogene und auch verlorene Zeit, in der einfach nichts passiert und dieses Nichts umso spürbarer ist. Denn dieses Nichts manifestiert sich nicht nur in immer groteskeren Zeitungsartikeln, die sich im Sommer häufen, sondern auch in Möglichkeiten, die auf einmal auftauchen. Freizeitaktivitäten wie die unzähligen Sommerkinos Wiens, wie zum Beispiel das Sommerprogramm des Filmmuseums, oder das „Kino wie noch nie“, oder das „Kino unter Sternen“ oder, oder, oder. Kaum zu glauben, wie voll das Sommerloch da schon eigentlich ist.

Von Zeit und Raum

Vor einigen Jahren schrieb ich schon mal einen Artikel über Sommer und die Kultur der Kühlung und bin zu dem Schluss gekommen, dass der Sommer drinnen und draußen verbindet. Die unsichtbare Grenze zwischen Privat und Öffentlich verwässert. Zu diesem Gedankengang zurückgekehrt, erkenne ich nun auch das nicht nur räumliche Grenzen aufgehoben werden, sondern auch zeitliche. Die heiße Tropennacht des Sommers ist keine Zeit der Ruhe, sondern der Aktivität und sie verschmilzt mit dem Tag, der Abend als lange Phase des Übergangs. Wir essen später, reden länger, die Nacht wird so zum Nachtmittag. Dies führt uns natürlich auch zu den längeren Öffnungszeiten von Geheimtipps wie dem Sternwartepark in Währing mit seinen verfallenden Observationsgebäuden, oder der Zentralfriedhof, der hat im Sommer auch längere Öffnungszeiten. Da kann man seine eigene Endlichkeit unendlich lange überdenken. Und das alles bei freiem Eintritt!

Nahverkehr

Oder man möchte doch ein wenig raus aus dem Stadtkern, vielleicht in die Wälder, die Wien umgeben. Die zwei, drei Hügel, die wir als Beckengegend „Berge“ betitelt haben. Der Kahlenberg, der der Cobenzl bieten sich an. Der Nussberg ist auch dicht besiedelt mit Heurigen und Buschenschanken, wo man mitten zwischen den Weinreben sitzend, auf Wien herabschauen kann. Also mehr noch als sonst. Vielleicht auch mal wieder am Himmel schauen, sich über den Lebensbaumkreis wundern. Sich danach über die nahegelegenen Ruinen noch mehr wundern und sich dann im Bus runter über die Mitfahrenden ohne Maske am meisten wundern. Eine wunderbare Zeit.

Wider die Produktivität

Aber eigentlich ist das alles irgendwie schrecklich produktiv. Also maßt fast einer gewisse Bringschuld an, die man glaubt auch in der Freizeit erfüllen zu müssen. Und das meine ich ganz ohne Spitze, bin ich doch eigentlich militanter Verfechter der freizeitlichen Unproduktivität. Als Alternative kann man sich natürlich auch mit einer Retrosonnenbrille in Neonpink – Rahmenfarbe wohlgemerkt, die Brillengläßer selbst sind Rabenschwarz – in ein möglichst gut klimatisiertes Einkaufszentrum setzen und dem Spätkapitalismus beim Um- oder Zusammenbruch zuschauen, ich fürchte ersteres, wünschte letzteres. Und wie hat Monobrother am Ende seines 2019er Albums „Solodarität“ – ganz unverbindlicher, erneuter Musiktip übrigens – nicht so schön gefragt: „Kummt da no wos?“, und es kam ja noch was. 2020 kam mit voller Wucht und auch diesen unendlichen Sommer wird noch einiges kommen, bevor es auf einmal Herbst ist und die Endlichkeit die Unendlichkeit erreicht.

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