„Wenn sie einen Typen kriegen wollen, werden sie auf einmal gläubig und schreiben an Gott“

Foto © Anna Konrath

Kaum ein Tag vergeht in Wien ohne Poetry-Slam, während der Tagebuch Slam noch nischigen Kultcharakter genießt. Diana Köhle hat das Format, bei dem Menschen jeden Alters die intimsten, lustigsten oder auch köstlich banalsten Einträge aus ihren Jugendtagebüchern auf der Bühne vorlesen, in Österreich etabliert. Sie erzählt uns, warum das Tagebuchschreiben während ihrer Kindheit in der Tiroler Provinz zum Rettungsanker wurde, was sie dank Tagebuch Slam über pubertäre Paarungsversuche und in Vergessenheit geratene Verhütungsmethoden gelernt hat, und welchem groben Missverständnis ihre schärfsten Kritiker:innen aufliegen.


„Ich bring dich über den Hintereingang,“ sagt die junge Frau vom Empfang. Nachdem wir mehrere Türen und Treppen passiert haben, betrete ich den abgedunkelten, vollbesetzen Saal des TAG-Theaters. Gute zehn Minuten bin ich zu spät, nass vom Regen, und ich hab keinen blassen Schimmer, was mich erwartet. (Ich bin hier, weil mir eine Freundin, Ingrid, einen „Überraschungskulturbesuch“ geschenkt hat). Ingrid winkt mir aus einer hinteren Reihe zu. Sie ist nicht die einzige, die mein beschämtes Hereinschleichen bemerkt.

„Du hast wohl zuhause noch Tagebuch geschrieben?“ ruft mir die Frau auf der Bühne entgegen. Freundlich, neugierig. Sie ist eine eindrucksvolle Erscheinung, eine Mischung aus Annie Lennox und PJ Harvey: Side-Cut, knallroter Lippenstift, Kreolen, silberne Glitzerleggings und hohe schwarze Lederschuhe mit zu Absätzen umfunktionierten Bürosesselfüßen. „Genau,“ stammle ich, während ich mich neben Ingrid fallen lasse. Was passiert hier?

Drei Wochen später treffe ich Diana Köhle im Café Möbel in der Burggasse wieder – heute trägt sie lila Lippenstift. Mein Zwerchfell wurde schon lange nicht mehr so nah an seine Belastungsgrenzen gebracht wie bei ihrem Event, deshalb will ich alles über den Tagebuch Slam wissen, das von ihr gegründete Slam-Format, bei dem Teilnehmer:innen aus ihren Jugendtagebüchern vorlesen. Manche der Einträge handeln von den großen und kleinen Dramen des Lebens. Zum Beispiel teilte Sandra einmal einen Text, in dem sie – damals 13 Jahre alt – ihren ausgeklügelten Plan beschrieb, am folgenden Tag ihre Lehrerin „Brigitte“ voll an zu machen, und zwar mit dem „schwarzen BH“ und dem weißen „Spaghetti-Träger Leiberl – „Da sieht man nämlich durch!“ Andere Tagebucheinträge dokumentieren die banalsten und gerade deshalb oft schönsten Momentaufnahmen des Alltags, wie der Text der damals 10-jährigen Sophie, die schrieb:

„Bei Ikea habe ich sooooo viel bekommen. Teilweise Sachen, die ich gar nicht wirklich brauche. Eine Herzdose, vier mal vier Suppenteller und Suppentöpfe, zwei Ordner, vier Schachteln! Irgendwie war mir mein finanzieller Stand heute egal. Ich brauche dringend noch das Rollkastl! Ich bin habgierig und verschwenderisch.“

Tagebucheintrag von Sophie (damals 10 Jahre)

Haben alle vier Teilnehmer:innen vorgelesen, dann wird, wie bei Slam-Formaten üblich, per Publikums-Voting ein:e Sieger:in gekürt.

Eine Sache wäre da aber noch. Bevor wir über Diana Köhles Tagebuch Slam sprechen, oute ich mich als die Zuspätkommerin vom letzten Event. Köhle ist amüsiert, und erkundigt sich, rücksichtsvoll, ob ihr damaliger Kommentar in meine Richtung in Ordnung war. Sie ist, wie ich schnell merke, gar keine „harte“ Rampensau. Klar, die jugendliche Diana, die sich gegen drei ältere Brüder durchsetzen musste, war „schon recht goschad“, und ihr Styling war auch „immer schon eher auffallend“. Mit 13 ließ sie sich sogar einen Nasenring stechen, den hatten ihr die Brüder von einer Indienreise mitgebracht.

Eine Teilnehmerin mit ihrem Jugendtagebuch beim Tagebuch Slam, Foto © Anna Konrath

Trotzdem, betont Köhle, sie war eben auch immer schon eine Beobachterin, konnte recht scheu und in sich gekehrt sein, „deshalb hab ich dann vielleicht auch Sachen im Tagebuch niedergeschrieben“, sagt sie. (Ihr allererstes Tagebuch, das sie 1989 bekam, war hart erkämpft. Bei der Kassa am Supermarkt argumentierte die Mama: „Das kriegst nit, weil du schreibst ja eh nit.“) Zur ernsthaften Hürde wurde Köhles Schüchternheit dann beim Medienpädagogik-Studium in Innsbruck: „Ich konnte Referate nicht halten. Ich war so nervös. Einmal hab ich auf einer Mini-Disc eine kleine Radiosendung aufgenommen und das dann als Referat vorgespielt.“ 

Das Abweichen von der Norm, das merkt Diana Köhle früh, wird nicht immer begrüßt, schon gar nicht im ländlichen Tirol. Damals glaubt sie noch, dass sie die einzige ist, die unter dem Anderssein und dem Nichtdazugehören leidet. Später auf ihrer Tagebuch-Slam Bühne wird sie Spielvarianten dieser Empfindungen immer und immer wieder hören.

„Wir haben alle geglaubt, wir sind so individuell, und das stimmt überhaupt nicht. Hätten wir das gewusst wäre uns die Pubertät so viel leichter gefallen. Wie oft ich in mein Tagebuch reingeschrieben hab, ich leb in diesem Scheiß-Kaff und niemand versteht mich und ich kann mit niemandem ausgehen, weil die sind alle so fad oder spießig. Und das hab ich jetzt schon in 100.000 Tagebüchern gehört, auch über die Generationen hinweg.“

Diana Köhle

Der Tagebuch Slam ist ganz zufällig entstanden, das betont Diana Köhle immer wieder. Dennoch kann man nicht leugnen, dass sie mit dem Format einen sicheren Raum geschaffen hat für das Teilen unserer intimsten, merkwürdigsten oder einsamsten Momente – und somit hat sie auch Platz geschaffen für ihr eigenes früheres Ich. 

Diana Köhle über die Entstehung des Tagebuch Slams

Dass die Tagebuch Slam Bühne ein Safe Space ist, ist Diana Köhle enorm wichtig. „Ich sag auch immer zu meinen Teilnehmer:innen, sie sollen Texstellen aussuchen, wo sie über ihr damaliges Ich schmunzeln können. Wenn sie’s Gefühl haben, dass sie die kleine Diana verraten, in dem was sie vorlesen, dann sollten sie das nicht auswählen. Ich will die Leute nicht vorführen. Am besten ist es, wenn man sagen kann: Boah, das bin ich überhaupt nimmer. Oder da muss ich lachen, dass ich damals schon so war und immer noch so bin.“ Köhle grinst gedankenverloren. „Dass ich mal meinen ersten Kuss vor Leuten vorlese, hätte ich mir nie gedacht.“

Ihr erster Kuss. Mit Christian. Der ihr das Herz brach. Diese Stelle aus ihrem eigenen Jugendtagebuch las Diana Köhle bei der allerersten Ausgabe des Diary Slams, der 2013 im Rahmen der von ihr gegründeten P.anoptikum-Slam-Reihe im BRUT stattfand. Mittlerweile sind die Einträge über ihren Teenage-„Traumboy“ Christian legendär in der kleinen aber eng vernetzten Tagebuch Slam Community. „Er ist echt total fesch geworden,“ schrieb sie damals in ihr Tagebuch, „schulterlanges Haar, blaue Augen, lässige Kleidung, kurzgesagt mein Traumboy. Hat mich auch einmal ganz kurz angesprochen und gesagt, hey Partner, wir haben nämlich beide eine Zahnspange, aber er nur oben.“

Heute muss sie lachen bei dem Gedanken, wie detailliert sie ihren ersten Kuss mit Christian festhielt. Trotz Cringe-Faktor möchte sie die Einträge aber nicht missen. „Du durchlebst es dann noch mal. Ich hab auf der Tanzfläche zu „Zombie“ von The Cranberries getanzt und bei dem Song ist er dann in der Tür gestanden.“ Die Geschichte mit Christian endete übrigens – wie die meisten unserer pubertären Versuche in Sachen Liebe – in Herzschmerz. Aber, wie der provokanteste aller elterlichen Pauschalratschläge besagt, die Zeit heilt eben doch alle Wunden. „Der Christian hat mir damals das Herz gebrochen, und jetzt kann ich drüber schmunzeln.“

Foto © Anna Konrath

Genau das ist laut Diana Köhle einer der Gründe, warum sich Kandidat:innen auf ihre Bühne stellen. „Viele Teilnehmer:innen sagen, es tut gut, mit der Vergangenheit abzurechnen,“ erzählt sie. Diese Verletzlichkeit trägt maßgeblich zu der eingeschworenen Stimmung bei, die man als Zuschauer:in beim Tagebuch Slam spürt. Ein bisschen fühlt es sich an wie mit zwölf, als man bei der Übernachtungsparty Geheimnisse in die Dunkelheit flüsterte. „Man tut etwas Verbotenes, man lauscht. Es ist eine Zeitreise in die eigene Vergangenheit. Das ist extrem schön, weil das macht man nicht so oft. Es sitzt immer jemand im Publikum, der sich in einem Beitrag wiedererkennt.“ Nach den Slams geht sie oft mit den Teilnehmer:innen auf ein Getränk. Einmal wurden sie von einem Typen angeredet, der sich wunderte, wie diese bunte Truppe zusammengehöre. Bevor Diana Köhle antworten konnte, rief der Barkeeper dazwischen: „Das ist eine Selbsthilfegruppe.“ Köhle lacht.

„Stimmt eigentlich irgendwie, wir sind die Tagebuch Slam Selbsthilfegruppe.“

Diana Köhle

Nicht jede:r kann der Verwundbarkeit, die das Vorlesen der intimsten Momente in der Öffentlichkeit mit sich bringt, etwas abgewinnen. „Ich war mal bei einer Tagebuch-Tagung im Publikum,“ erzählt Diana Köhle. „Und dann hat eine bekannte Wissenschaftlerin über Tagebücher gesprochen und hat den Tagebuch Slam als negatives Beispiel angeführt. Ich hab gefragt: Waren Sie schon mal zuschauen? Dann hat sie nein gesagt. Dann hab ich gesagt: Wie kommen Sie dann dazu, das so ins Negative zu ziehen, weil ich bin die Veranstalterin, das ist mein Baby. Ich will niemanden vorführen. Da war Gott sei Dank jemand bei der Tagung der auch gesagt hat, ich hab schon öfter mitgemacht und das stimmt überhaupt nicht was Sie da sagen.“ Narzissmus, Voyeurismus, die Entweihung der Privatsphäre – Diana Köhle steht jeder Kritik mittlerweile gelassen gegenüber. Wer sich eine Meinung bilden will, soll gern vorbeikommen. Außerdem weiß sie selbst am besten, dass das Live-Format Überraschungen mit sich bringt – genau wie jedes andere Slam-Format auch.

Diana Köhle über Kritik am Tagebuch Slam

Da sie die Einträge nicht vorab liest, setzt der Tagebuch Slam Vertrauen und die Selbsteinschätzungsfähigkeit der Teilnehmer:innen voraus. „Ich hab mal eine Kandidatin gehabt, die hat ein aktuelles Psychiatrietagebuch vorgelesen, und da hab ich gesagt, das geht nicht.“ Auch als ich ein paar Wochen nach meinem Gespräch mit Diana Köhle einen weiteren Tagebuch Slam besuche, gibt es eine brenzlige Situation. Eine Kandidatin liest aus ihrem Kindheitstagebuch, eine Szene beschreibt scheinbar einen Fall von Missbrauch. Das Publikum hält kollektiv den Atem an, bis Köhle die Situation mit Charme und Souveränität rettet. Mittlerweile stellt sie potenziellen Kandidat:innen vorab sechs Fragen, um sie kennenzulernen. Die Zensur will sie aber auf keinen Fall spielen, also hat sie gelernt, mit dem Restrisiko umzugehen. Dabei hilft ihr auch die jahrzehntelange Erfahrung. Köhle ist nämlich eine der Pionier:innen der österreichischen Slam-Szene.

Alles beginnt 2003, mit ihrem Umzug von Tirol nach Wien. Weil es im Rahmen ihres Studiums keine Möglichkeit für ein Erasmus-Jahr gibt, kommt Diana Köhle in die Hauptstadt, und merkt schnell, hier will sie bleiben.

„Ich war in Innsbruck gern, aber zu gern – ich hab immer das Gefühl gehabt, das kann nicht alles gewesen sein.“

Diana Köhle

2004 gründet sie gemeinsam mit einer Freundin die heute legendäre Slam-Reihe „textstrom“, die anfangs in einem kleinen Hinterzimmer des Café Europa stattfindet. 2007 folgen die ersten österreichischen Poetry-Slam Meisterschaften „Ö-Slam“, diesmal ist auch ihr Bruder mit im Boot.

Meistens steht ihre Moderationskollegin vorne auf der Bühne, Diana Köhle bleibt im Hintergrund. Es dauert, bis sie sich auch ins Rampenlicht vorwagt, aber eigene Gedichte trägt sie nicht vor. „Es ist nicht meine Ausdrucksform. Ich hab einen Bruder, der damit sehr erfolgreich ist, und wahrscheinlich wollte ich mich da auch nicht immer messen. Und ich hab schon so viele gute Texte gehört, also ich hab da einen sehr hohen Anspruch an mich selbst.“ Verändert haben die Jahre in der Slam-Szene sie trotzdem, sie fühlt sich nun auch vor dem Bühnenvorhang wohl, als Moderatorin, und wenn’s heikel wird auch mal als Türsteherin.

„Bei 102 Slam Bs hab ich zweimal jemanden von der Bühne verwiesen. Der eine ist ein bekannter Sänger mittlerweile, und der hat sich auf der Bühne ausgezogen und das Publikum beschimpft und dann den Notenständer und den Mikroständer auf meine Fotografin geworfen. Das ist halt schon scheiße. Aber es gehört dazu, wenn es einmal nicht so läuft. Das macht auch den Reiz aus.“

Diana Köhle

Die Dynamik mit ihrer langjährigen Kooperationspartnerin funktioniert gut, bis sie nicht mehr funktioniert. Ab circa 2008 macht Diana Köhle dann ihr eigenes Ding. Sie gründet eine Reihe an Poetry-Formaten, wie den Slam B und das Slam P.anoptikum, aus dem später der Tagebuch Slam – damals noch Diary Slam – hervorgeht. (In Berlin und Hamburg gibt es unabhängig davon seit 2007 Diary Slams. Außerdem fand ein ähnliches Format namens „Cringe Night“ schon 2005 in Brooklyn, NY, statt). Köhles Diary Slam ist seit 2013 im Theater an der Gumpendorferstraße (TAG) zuhause, dort unter dem Titel „TAGebuch Slam“.

Wie Diana Köhle in Wien ihre Schüchternheit überwand

Mittlerweile findet der Tagebuch Slam nicht mehr nur live auf Bühnen österreichweit statt, Diana Köhle hat auch zwei Anthologien herausgegeben mit Originalzitaten aus den Jugendtagebüchern ihrer Slam-Teilnehmer:innen. Im Herbst 2014 liefen außerdem fünf Folgen des Tagebuch Slams unter dem Titel „Liebes Tagebuch …“ im ORF, im Rahmen von „Die.Nacht“. Der Kurier-Kritiker Guido Tartarotti stellte damals die rhetorische Frage, „wie man je ohne diese Sendung leben konnte.“ Außerdem gehört zum Tagebuch-Slam Universum neuerdings auch ein Podcast namens „Mein Tagebuch, ich + …“, bei dem je ein:e Teilnehmer:in plus eine Person, die in dem Tagebuch genannt wird, zu Gast sind.

In einer Podcast-Folge berichtet zum Beispiel Kerstin sehr detailliert von ihren ersten „romantischen“ Erfahrungen:

„Wie es aussieht, steht Sven beim Sex auf den Einsatz von Lebensmitteln. Ich werde nie wieder ganz normal Pudding, Gummibärchen oder Erdbeeren essen können.“

Teilnehmerin Kerstin in einer Podcast-Episode von „Mein Tagebuch, ich + …“

Dazu der trockene Kommentar ihrer Mama Silvia: „Scheint ein schwieriger Typ gewesen zu sein.“ Im Gegensatz zum Live-Format, bei dem viele Fragen offen bleiben, soll der Podcast Geschichten fertig erzählen. (Was die meisten brennend interessiert: Sind die zamgekommen?) 

Die Liebe ist überhaupt das Thema im Tagebuch, und zwar über geographische und Generationsgrenzen hinweg. „In ganz Österreich, wenn sie einen Typen kriegen wollen, werden sie auf einmal gläubig und schreiben dann an Gott,“ erzählt Köhle. Erst letzten Frühling, beim „Tagebuch Slam im Park“, schrieb ihr ein ungefähr 12-jähriges Mädchen ins Gästebuch: „Ich bin gerade in dem Alter, über das ihr vorlest, und es ist schön zu sehen, dass ihr auch diese Probleme hattet.“ Uns plagen alle dieselben Zweifel, das betont Köhle immer wieder. „Im Grund ist es immer um dieselben Sachen gegangen.“

Trotz all der Gemeinsamkeiten, Diana Köhle, die in neun Jahren Tagebuch Slam bereits Einträge von über 500 Kandidat:innen gehört hat, beobachtet, wie sich Ausdrucksformen und der Grad der Offenheit über die Jahrzehnte hinweg verändern. „Mir fällt auf, dass die 90er/2000er Jahrgänge viel hemmungsloser ins Tagebuch schreiben, und dass die zum Teil auch schon gendern, was mich sehr freut. Und dass es auch egal ist welches Geschlecht und in wen sie sich verlieben, was ich super finde.“ Mittlerweile erkennt sie auch Zusammenhänge zwischen frühen Tagebucheinträgen und späteren Berufswegen. „Die, die drogenexperimentemäßig am ärgsten unterwegs waren, sind jetzt of Mediziner:innen.“ Gleichzeitig erklärt sie: „Es sagt oft nichts darüber aus, wie man früher war und wie man jetzt ist, aber es kann etwas aussagen.“

Foto © Anna Konrath

Wenn Köhle diverse Anekdoten aus ihrem reichen Erinnerungsarsenal teilt, dann merkt man, sie ist eine Menschenfreundin, und sie ist unfassbar neugierig. Ungeplanterweise fungieren die Tagebuch Slams, und vor allem die dazugehörigen Bücher und Podcasts, auch als Zeitdokumente. „Ganz wichtig war für mich die Lore festzuhalten, die 83 ist,“ so Köhle. Manche Tagebuch-Einträge bringen längst vergessenes Wissen zu Tage, zum Beispiel zum Thema Verhütung. Roswitha, Jahrgang 61, las vor, wie sie und ihre Freundinnen in den 70ern mit dem Verhütungsschaum „Patentex Oval“ kämpften. Das war auch Diana Köhle neu. „Irgendwie war das schon eine recht offene Atmosphäre, in der die gelebt haben, und jetzt haben wir teilweise wieder einen Rückschritt.“

Wer allerdings glaubt, dass Tagebücher nichts als schonungslose Ehrlichkeit liefern, liegt falsch.

„Im Tagebuch redet man sich Sachen schön, gerade wenn wir über Jungs reden. Das Tagebuch ist ja praktisch, das muss dir immer zuhören, das kann dir nicht widersprechen, und du entscheidest, wann du zuklappst.“

Diana Köhle

Eine von Köhles Kandidat:innen schrieb sogar einen kompletten Fake-Eintrag über ihr „erstes Mal“ in ihr Tagebuch, um den neugierigen Bruder auf eine falsche Fährte zu locken – als Informationsquelle diente ihr dabei die legendäre Dr. Sommer Kolumne aus der Bravo.

In der öffentlichen Wahrnehmung hat das Tagebuchschreiben eine Wandlung durchlaufen. Einst das Tor zum Gedankenreich gefeierter (meist überproportional weißer und männlicher) „Genies“ wie Darwin, Churchill oder Kafka, ist das „Journalling“ heute eine zentrale Säule des Self-Care Movements. Für Gwyneth Paltrow & Co gilt es als mindestens so erkenntnisversprechend wie die Morgenmeditation und die Saftkur. Mit den Tagebucheinträgen, die bei Diana Köhle vorgelesen werden, hat das alles wenig zu tun, die sind nämlich weder inhaltlich kuratiert noch ästhetisch ansprechend verpackt. Wenn aus dem schmuddeligen 70er-Jahre Heft im Apfeleinband oder aus dem legendären 90er Diddl-Notizbuch rezitiert wird, dann wird es auch mal gschamig oder grauslig, dann geht es in die Untiefen der aknegeplagten, hormongesteuerten und meist ungeküssten Seele. Wenn Köhles Teilnehmer:innen vorlesen, dann erkennt das Publikum sich wieder. Genau deshalb wird beim Tagebuch Slam auch so herzhaft gelacht.

Wer aktuell auf der Suche nach Liebe ist, für den hat Köhle übrigens einen nicht ganz uneigennützigen Tipp: „Der Tagebuch Slam ist das neue Tinder. Es ist perfekt für Dates, man kann sein Gegenüber abchecken, wie ist der Humor, man redet relativ schnell über Ex-Geschichten oder Liebessachen, weil man da dann sehr offen ist. Es ist oft eine aufgeheizte Stimmung“. Damit noch möglichst viele diese aufgeheizte Stimmung erleben können, sucht Köhle ständig nach neuen Teilnehmer:innen. Natürlich erfordert der Auftritt auf ihrer Bühne Chuzpe, außerdem haben viele von uns ihre Jugendtagebücher ritualistisch verbrannt, um mit der Vergangenheit abzuschließen. Von denen, die teilnehmen, kommen allerdings viele immer wieder. Den ultimativen Beweis für das Vertrauen, dass die Kandidat:innen in Köhle legen, lieferte eine Teilnehmer:in, die sie telefonisch informierte, sie stehe in ihrem Testament: Sie würde Köhle ihre Tagebücher vererben, denn bei ihr wären sie in guten Händen. 

Eine Teilnehmerin beim Tagebuch Slam, Foto © Anna Konrath

Während unseres Gesprächs betont Diana Köhle mehrfach, der Tagebuch Slam sei ihr in den Schoß gefallen, ein Geschenk des Himmels, ohne jede Intention. Trotz seiner zufälligen Genesis ist das Event heute untrennbar mit Köhle und ihrem Leben verwoben, und er spiegelt sie wieder – ihren unverkennbar lebenslustigen, wissbegierigen und kompromisslos philanthropischen Blick auf die Welt. Diana Köhle ist die Frau mit den extravaganten Outfits (über die sie akribisch Buch führt, um Wiederholungen zu vermeiden). Aber sie ist auch die Frau, die meine abschließende, humoristisch gemeinte Frage danach, welchen Charakter ihrer Lieblingsserie „Sex Education“ sie am liebsten auf ihrer Bühne hätte, mit akademischer Ernsthaftigkeit beantwortet. „Die Mama vom Otis,“ sagt sie nach einer Nachdenkpause. „Wie schreibt die Therapeutin Tagebuch? Oder Maeve, die ist auch eine spannende Person, wie sie aufwächst und was sie daraus macht, und sie sieht dass Bildung wichtig ist, um da rauszukommen. Ich finde das fantastisch und ich kenne das ja aus eigener Erfahrung. Und Eric, wie cool er [seine Homosexualität] schon auslebt in seinem Alter und in dem sehr patriarchalen System“

Eric (gespielt von Ncuti Gatwa) in der Netflix-Serie „Sex Education“

Dann pausiert Diana Köhle erneut und bringt mit ihrem nächsten Satz pointiert auf den Punkt, worum es beim Tagebuch Slam, neben all den amüsanten Anekdoten missglückter adoleszenter Annäherungsversuche, eben auch geht:

„Ich hab ganz oft Tagebücher von Schwulen auf der Bühne gehabt, die einfach sagen, das hat jetzt so gut getan. Damals war es so schwierig und jetzt hab ich gesehen, dass der ganze Saal hinter mir steht.“ 

Diana Köhle

Im Juli 2022 findet der Tagebuch Slam im USUS am Wasser statt, und zwar noch am 27.7.

Wenn du Lust hast zuzuschauen oder vielleicht sogar am Tagebuch Slam teilzunehmen, dann besuch Diana Köhles Website: https://www.liebestagebuch.at/

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