Alltagsgeschichten. Reloaded – Rewatched – Reframed

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„Dem Volk aufs Maul gschaut“ ist eine Redewendung, die oftmals zum Signalisieren von Bodenständigkeit verwendet wird. Dabei entlarvt sie sich selbst aber als ein Blick von oben herab, bedenkt man, dass durch die Abgrenzung vom „schauenden“ Menschen und „dem Volk“ ein ungleichmäßiges Kräfteverhältnis illustriert wird. Wer ist „schauend“ und wem wird „aufs Maul geschaut“? Elisabeth Toni Spira verstand es meisterhaft „mit“, anstatt nur „über“ Menschen zu reden, ihnen zuzuhören, aber auch manchmal kritisch nachzufragen.


Die späten 80er waren in Wien eine seltsame Zeit. Noch nicht richtig die 90er Jahre, die Zeit des naiven Aufschwungs des widerstandslosen Neoliberalismus, aber auch schon nicht mehr wirklich die Zeit des Neon- und Synth-Pop. Vor allem ist Wien ja auch immer auch ein bisschen langsamer als der Rest der Welt, das hat es sich selbst im Zeitalter von Blockchain und Artificial Reality heut noch bewahrt. Dies ist auch die Zeit, in der eine gewisse Frau Spira mit einer Sendung Aufsehen erregte, die bis heute unerreicht ist. Kein „Wir leben im Gemeindebau“, „Geschäft mit der Liebe“, oder „Saturday Night Fever“ kam jemals an die nicht nur nostalgische Atmosphäre, sondern mitunter auch beklemmende und immer schonungslos ehrliche Stimmung der „Alltagsgeschichten“ heran. Die „Frau Spira“ war nicht nur eine Stimme aus dem Off. Sondern eine Persönlichkeit, ein immer gern gesehener Mensch bei den befragten Leuten und das oft auch über politische Klüfte hinaus.

Eine kleine Geschichte der Frau S

Als „typische“ Wienerin wurde Spira 1942 im schottischen Glasgow geboren, da ihr Vater Leopold Spira als jüdischer Kommunist, der auch noch gegen die Faschisten im spanischen Bürgerkrieg kämpfte, aus Österreich fliehen musste. Seine politische Überzeugung prägte auch Spiras, sie machte nie einen Hehl aus ihrer linken Ideologie und sozialistische Solidarität, was auch immer bei ihrer Arbeit bei den „Alltagsgeschichten“ spürbar war. Hörte man hier schließlich Menschen, deren Sorgen und Ängste, die sonst hohle Phrasen und Wahlkampfslogans waren, persönlich darüber erzählen und auch oft ihrem Ärger Luft machen. Oftmals ging es um die Lebenserhaltungskosten, die Zukunft, die Vergangenheit und auch Verluste. Kurzum: Dinge, die uns heute wie damals beschäftigten, beschäftigen und beschäftigen werden.

Aussagen für die Ewigkeit

„Do schmeckt da ka‘ Marün mehr“ und „Der Herr Ministaaah“ haben es dank dem Internetmusiker Kurt Razelli gegen Ende der 2010er Jahre wieder geschafft in aller Munde zu sein. Doch war das, was hier auf den ersten Blick wie ein Gebilde Hohn und Nostalgie wirkt nicht auch irgendwie eine Art Schlachtruf der Unzufriedenen? Die Aussagen, die Spira festhielt, waren gleichzeitig zwischenmenschlich alltägliche, aber dennoch selten im Fernsehen gesehene. Hier sah man die Risse im Kitt der perfekten Welt der 90er. Arbeitslose, Mindestrentner, Frühpensionisten, die zeitweise unglaublich scharfe Beobachtungen stellten, Analyse ohne akademische Last.

Der Rand der Gesellschaft sind wir

Was vor allem immer das Besondere an den Alltagsgeschichten war: Dass Leute interviewt wurden, die sonst immer mit dem irreführenden Begriff „Randgruppen“ versehen werden. Man denkt hier an einen kleinen, statistisch unwichtigen Teil der Gesellschaft, den man auslachen und wieder vergessen kann, doch in Wahrheit einen großen Teil der Bevölkerung ausmacht. Wir sind alle schräge Vogel, Nudist:innen, Schaman:innen, Kneipenstammgäste, Flohmarkthändler:innen, Straßenmusiker:innen und stepptanzende Baustoffvertreter:innen. Und Frau Spira hatte für alle von uns Zeit, nahm uns ernst und fragte nach, wenn ihr etwas unschlüssig erschien. Aber nicht von oben herab, sondern auf Augenhöhe.

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