
Freundschaften, die während eines Auslandssemesters entstehen, sind intensiv aber auch temporär und bleiben deshalb oft oberflächlich. Aber was, wenn ein politisches Ereignis diese Konventionen der Erasmus-Blase sprengt? Und wenn die Person, von der du es am wenigsten erwartet hättest, Trump-Anhänger:in ist?
Im Herbst 2016 ging ich auf Auslandssemester. Den ganzen Sommer über freute ich mich mit einem so ungestümen Übermut auf diese Zeit, dass die Erfahrung allen Gesetzen der Logik zufolge eine enttäuschende hätte werden müssen. In meiner Bewerbung hatte ich geschrieben, was jede:r in seiner Erasmus-Bewerbung schreibt: Ich wollte meinen Horizont erweitern – natürlich vorrangig akademisch – aber auch kulturell.
Ich wollte die Welt mit anderen Augen sehen.
Ich reiste Anfang September an. Ich belegte mehrere Kurse, und in einem davon lernte ich zwei Amerikaner kennen. Sie waren in meinem Alter, Anfang/Mitte zwanzig. Der eine studierte Linguistik, wie ich. Er war ein aufgeweckter Kerl, ehrgeizig. Wenn er Geschichten erzählte, dann wippte er auf den Füßen, von den Fersen zu den Fußspitzen. Der andere Amerikaner war groß und schlaksig, mit längeren blonden Haaren und Harry-Potter-Brille. Er war still, schüchtern und nachdenklich. Im Unterricht stellte er kluge Fragen.
Ich lernte ein wunderschönes achtzehnjähriges Mädchen aus Miami kennen. Sie war fünf Jahre jünger als ich, aber ungefähr fünfzehn Jahre lebenserfahrener. Ihre kleine Schwester ging in den Schwimmunterricht mit den Kindern von Matt Damon. Einmal waren wir auf einer Studentenparty, in einem Keller mit klebrigen Plastik-Sofas und Beerpongtischen. Sie zeigte auf ihr Kinn. Ich werde das in ein paar Jahren richten lassen, sagte sie. Meine Tante, meine Mutter, meine Cousine – jede Frau in meiner Familie macht diese OP. Ich starrte sie an, suchte nach einer Fehlstellung, einer anatomischen Abweichung, aber ich sah nichts. Ihr Kinn war ein stinknormales Kinn.
Mit einer kleinen quirligen Schottin wühlte ich mich durch miefige Charity Shops, zog wahllos an Ärmeln, Hosenbeinen und Kapuzen, griff nach Oma-Handtaschen, alten Pelzmänteln, weit geschnittenen Hosen. Für ein paar Pfund kauften wir Kleidung für die verwegenen Frauen, die wir nie sein würden. Wenn ich an die kleine Schottin denke, dann denke ich an ihr Lachen, viel zu groß für ihr kleines Gesicht. Sie zeigte mir das beste Frühstückslokal der Stadt.
Ich begann für die Studentenzeitung zu schreiben, für die „Features“ Section. Ich hatte keine Ahnung, was „Features“ waren, aber das war die Rubrik, für die sich die wenigsten Freiwilligen meldeten. Manchmal half ich sonntags beim Copy-Editing aus. Eine handvoll Studierende traf sich in der Redaktion, ein Raum mit niedriger Decke im Keller eines Uni-Gebäudes, und las die aktuelle Ausgabe Korrektur. Ich liebte diese Nachmittage. Dann, im Oktober schrieb ich eine Kolumne über Hillary Clinton. Ich las alles, was ich über die Präsidentschaftskandidatin finden konnte. Ich überflog die Kolumne, die sie selbst in den 90ern geschrieben hatte, ich las über ihren erfolgreichen Senatswahlkampf im Jahr 2000. Ich fand sie beeindruckend.

Die beiden Amerikaner traf ich sporadisch. Wir sprachen über Hausübungen und die seitenlangen, in Miniaturschrift geschriebenen wissenschaftlichen Texte, durch die wir uns kämpfen mussten. Wir lasen auch die Fußnoten. In der akademischen Welt ist Fußnotenlesen ein Statussymbol, so wie Ultramarathons im Laufsport – nur für die wirklich Harten. Wir fühlten uns so clever – so clever wie man sich nur fühlen kann, wenn man eigentlich sehr wenig weiß.
Der kleinere Amerikaner war aus Kalifornien, das ich “kannte” – aus TV-Serien wie O.C., California. Der größere Amerikaner war aus South Carolina, ein Ort, von dem ich kein Bild hatte.
Wie ist es da, fragte ich, und er erzählte von Barbecues und der Hitze im Sommer und der Gastfreundschaft. Ich stellte mir vor, irgendwann dorthin zu reisen und frittierte Snickers-Riegel zu essen.
Einmal saßen wir im Uni-Café und aßen Mehlspeisen, der große Amerikaner nannte sie “Viennese pastries”. Er war blasser als sonst und hatte dunkle Augenringe. Aus einer Laune heraus, vielleicht war es die Müdigkeit, erzählte er, dass er seit Wochen schlecht schlief. Ich nickte, ich verstand. Der kleine Amerikaner sah verwirrt aus. Er verstand es nicht.
Am 8. November war ich abends allein in meinem kleinen, schmuddeligen Studentenheimzimmer. Ich schaltete den CNN-Live Stream an. Laut der New York Times würde Clinton zu 99% gewinnen. Ich wollte unbedingt wach bleiben für diesen historischen Moment, aber ich schlief bald ein. In den frühen Morgenstunden schreckte ich auf, rieb mir die Augen, starrte verwirrt auf den dröhnenden Bildschirm. Der Nachrichtensprecher sah nervös aus. Florida geht an Trump, sagte er. Das kann ja gar nicht sein dachte ich, drehte mich um, und schlief wieder ein.
Am nächsten Tag war die Cafeteria Begräbnis-still. Die Kalifornierin, ein paar andere und ich aßen unseren wässrigen Haferbrei und tranken den bitteren Kaffee und sprachen leise. Ein gut gebauter Typ, den ich nicht kannte, betrat den Raum. Er sah wie jemand aus, der in einem amerikanischen Film einen Highschool Football-Spieler mimen könnte.
Dutzende Augenpaare waren auf ihn gerichtet, folgten ihm, wie er den Gang entlang schritt, das Tablett gegen den Bauch geklemmt.
Ich glaube, er grinste, aber vermutlich trügt mich die Erinnerung. Vielleicht sah ich Häme, wo gar keine war. Er trug ein rotes “Make America Great Again” Kapperl. Ich dachte mir, was für ein Idiot. Er muss doch wissen, dass jede einzelne Person in diesem Raum ihn hasst. Warum provoziert er uns so?
Wie alle anderen verbrachte ich den Tag am Handy. Wir hatten Unterricht, aber die Lehrenden forderten keine Aufmerksamkeit ein. Das Seltsame an kollektiven Ereignissen ist, dass sie individuelle Gefühle schlagartig synchronisieren. An einem durchschnittlichen Tag fühlt sich die eine Person niedergeschlagen und der andere vorfreudig und die nächste neutral. Aber an diesem Mittwoch waren wir vereint in unserer Fassungslosigkeit.
Am Nachmittag, zuhause in meinem Zimmer, scrollte ich durch meinen facebook Feed. Ich las fanatisch Eintrag um Eintrag. Reposts von Kommentaren der großen Zeitungen: die New York Times titelte “Trump Triumphs: Outsider Mogul Captures the Presidency”, der Guardian kommentierte, “Obama Gave Us Hope, That Feeling Is Long Gone”. Ich fühlte mich immer noch überwältigt, aber zumindest wurde meine Überwältigung gespiegelt. Zumindest fühlten wir alle gleich.
Ich scrollte weiter, ein Post von dem großen Amerikaner. Ich stockte. Laut meiner Erinnerung schrieb er so etwas Ähnliches wie: “Was für ein schöner Tag”. Wie dumm, dachte ich. Weiß er, wie das aussieht? Was für ein geschmackloser Witz!
Ich kommentierte, wollte ihn auf seinen Fehler aufmerksam machen. Er antwortete, er hatte es genauso gemeint, wie es schien. Er sprach von Theorien und Ideen, von denen ich noch nie gehört hatte. (Vieles von dem, was er sagte, war übertrieben, falsch oder irrelevant). Ich antwortete, er kommentierte zurück, zwei sich wie Efeu um einander rankende Monologe. Ich spürte die Hitze in meinen Wangen – ich mag keine Konflikte. Heute denke ich, es muss ihm genauso gegangen sein. In dieser Hinsicht waren wir uns doch ähnlich, oder?
Der große Amerikaner und ich blieben so etwas wie Freunde, nur sehr viel misstrauischer. Einen Monat später bat ich ihn um einen Gefallen, er half mir ohne zu Zögern. Ein Herantasten. Nach unserem Auslandssemester verloren wir schnell den Kontakt. Bei jeder Wahnsinnsnachricht, die in den vier Jahren danach über den Atlantik zu uns schwappte, dachte ich an ihn und fragte mich: Und was denkst du jetzt? Jahre später checkte ich noch sporadisch seinen facebook Account, scrollte mich durch Nachrichten und Bilder aus einer Parallelwelt, die mich wütend machten. Fragte mich, ob er sich durch meinen Account scrollte und dasselbe dachte.
Dieser Text basiert auf persönlichen Erinnerungen, nicht alle Details können nachträglich noch verifiziert werden. Alle personenbezogenen Informationen wurden anonymisiert.