
Warum ist mein Instagram-Feed voller Berggipfel, aber mir schlottern beim Anblick des Kettenkarussells im Prater die Knie? Was ist der Canaletto-Blick, und warum besichtigen wir in jeder Stadt das höchste Gebäude? Warum nennen Wiener:innen jeden Hügel „Berg“, und warum bringt das Vorarlberger:innen zum Schmunzeln? Wir haben uns ein paar Gedanken über unsere ambivalente Beziehung zu Höhe gemacht.
Meine Nasenspitze ein paar Millimeter vor der kalten Glasscheibe, unter mir ausgebreitet eine Millionenstadt im Halbnebel. Da hinten fließen undefinierbare, grau-schattierte Blöcke in den wolkigen Horizont, aber hier vorne sehe ich alles – Bettwäsche auf Balkongeländern, waghalsige Lieferdienst-Fahrer:innen, zugestellte Innenhöfe, sorgsam bepflanzte Blumenbeete, Straßenbauarbeiten, Hundeparks, verblassende Zebrastreifen.
Kein Wunder, dass alles in uns nach Weite, Raum, und Bewegung drängt.
Ich kann mich an keinen Städtetrip ohne Aussichtsturmbesuch erinnern. Dabei bin ich kein Fan von Höhe. Laut „Prospect-Refuge Theory“ empfinden Menschen Sicherheit und ästhetischen Genuss an Plätzen, die ihnen Aussicht und Zuflucht bieten. Vistas über weitläufige Landschaften und Skylines liefern den Reiz des Neuen, und einen guten Überblick über mögliche Gefahrenquellen. Je weiter, tiefer und offener der Blick, desto besser.

Vielleicht ist das der Grund, warum mein Instagram-Feed voller Bergfotos ist. (Die stören mich übrigens nicht). Zwei Jahre Lockdown haben unser Einigel-Bedürfnis mehr als erfüllt. Kein Wunder, dass alles in uns nach Weite, Raum, und Bewegung drängt.
Wer Wien nicht verlassen möchte, der besucht die Gloriette in Schönbrunn, den Cobenzl, den Donauturm oder die Jubiläumswarte. Alternativ spaziert man auf den Schafberg oder den Kahlenberg. Wenn das Westösterreicher:innen hören, dann schmunzeln sie. (Im Sommer war ich in Zürich, wo viele Innsbrucker:innen leben. Manche von ihnen haben in Wien studiert. „Wien ist so schön“, sagen sie. „Aber auf Dauer kann ich nicht ohne Berge.“)
Mir macht Höhe Angst, leider.
Ungefähr ein Drittel der Bevölkerung kennt diese milde Form der Höhenangst. Zwischen 3 und 7 Prozent erleben eine deutlich intensivere Einschränkung, die Acrophobie. Das bedeutet Herzrasen, Schwindel, und Panik.
Angst und Nervenkitzel liegen nahe beieinander, und deshalb bieten schon Bild- und Filmaufnahmen von Höhe ein Thrill-Erlebnis. Rooftopping heißt das lebensgefährliche Social-Media-Phänomen, das vor allem Jugendliche dazu bringt, ungesichert und meist illegal auf hohe Gebäude zu klettern, und die so entstandenen Schnappschüsse auf Social Media zu teilen. Auch in Wien ist schon mal jemand auf die Votivkirche geklettert. (Gut finden wir das natürlich nicht).
Nicht umsonst lassen sich komplexbehaftete Milliardäre neuerdings per Shuttle ins Weltall kutschieren.
Wer durch das Kunsthistorische Museum oder das Architekturzentrum schlendert, der ist vermutlich nicht auf der Suche nach Thrill, sondern nach sanfteren Formen des ästhetischen Genusses. Im KHM hängt „Wien, vom Belvedere aus gesehen“ des venezianischen Malers Bernado Bellotto. Es ist Ursprung des vielfach kopierten Canaletto-Blicks, einer Perspektive auf Wien vom Schloss Belvedere auf die Karlskirche, den Stephansdom und die Salesianerinnenkirche.

Warum uns das gefällt? Vielleicht auch, weil Höhe positive Assoziationen auslöst. Schließlich stehen die physischen Merkmale „weit, hoch und groß“ seit jeher symbolhaft für „impostant, reich, und mächtig“. Nicht umsonst lassen sich komplexbehaftete Milliardäre neuerdings per Shuttle ins Weltall kutschieren. (Gut finden wir das natürlich nicht).
Die Ansichten des niederländischen Meisters Pieter Bruegel, wie zum Beispiel „Jäger im Schnee“, sind weniger imposant, dafür bieten sie wimmelbuchartige Detailliebe und Vielfalt, plus einen Hauch von Voyeurismus.

Im Vordergrund Jäger mit ihren Hunden, im Hintergrund Schlittschuläufer:innen am zugefrorenen Teich, weiter hinten kleine Siedlungen, ein Kirchturm, noch weiter weg verschneite Berggipfel und bewaldete Hänge.
Ganz ähnlich, eigentlich, wie der Blick vom Aussichtsturm, oder vom Berggipfel. Häuser, Felder, Menschen – perspektivisch geschrumpft. Alles im Blick, manchmal sogar den Horizont. Auf dem Foto fast kitschig, in der Realität irgendwie schön.