Living the Stream

Nod Away 1 und 2

In Joshua Cotters vielschichtigem Science-Fiction-Comic »Nod Away« werden die großen Themen der menschlichen Zukunft verhandelt. Nach fünf Jahren ist nun der zweite Band der Serie erschienen. Zum Einschlafen ist der nicht.


Es waren lange Jahre des Wartens, im September ist endlich der zweite Teil von Joshua Cotters Sci-Fi-Epos »Nod Away« erschienen. Die Bezeichnung Epos trifft es dabei wirklich: Der erste Band hat knapp 230 Seiten, der zweite Band über 360. Angelegt ist die Serie auf sieben Bände. Man hat es schon im ersten Teil gemerkt: Cotter hat viel vor. Der zweite Band übererfüllt die hohen Erwartungen und verdichtet die mit viel Liebe zum Detail gestaltete Welt.

Das Internet im Kopf

In der nahen Zukunft funktioniert das Internet – nach Implantation eines Chips in die Großhirnrinde – telepathisch. »Streaming« nennt der Erfinder, Dr. Earnest Bertrand, die neue Technologie, bei der das Bewusstsein sämtlicher User verschaltet wird. Mit dem Stream ist somit alles verfügbare Wissen für die Nutzer jederzeit direkt im eigenen Kopf zugänglich, ebenso funktioniert er als Kommunikations-Tool. Nicht jeder Mensch kann jedoch die kontroverse Technologie nutzen; etwa 40% der Weltbevölkerung sind nicht mit dem Innernet kompatibel. Soweit die Ausgangssituation, die den Hintergrund zu Cotters epischer Erzählung bildet.

Im ersten Band der Serie begleiten wir die Wissenschaftlerin Dr. Melody McCabe auf die Raumstation »Integrity«, quasi eine ISS 2.0, wo sie den zentralen Hub, über den das Innernet läuft, weiter beforschen soll. Denn: Der »Hub« ist ein Menschenkind namens Eva, ein Umstand, der für viel Kritik und schlechte Publicity sorgt. Dr. McCabe soll also mit einem internationalen Team von Wissenschaftlern einen neuen, nicht-menschlichen Hub errichten. Doch auf der Integrity scheint einiges nicht mit rechten Dingen zuzugehen.

Ankunft auf der Integrity. Eine Seite aus Nod Away vol. 1; © Fantagraphics/Joshua W. Cotter

Der zweite Band nähert sich aus einer anderen Perspektive und setzt einige Jahrzehnte vor der breitenwirksamen Markteinführung des Innernets ein. Erzählt wird eine Liebesgeschichte zwischen dem melancholischen Illustrator Walter und der enigmatischen Überlebenskünstlerin Aveline. Was sich anfangs nach Manic-Pixie-Dream-Girl-Situation anfühlt, wird bald existenziell.

Auf einer weiteren Erzählebene, die sich durch beide Bücher zieht, irrt ein Mann, scheinbar ein ehemaliger Astronaut, einsam über einen verlassenen Planeten. Ob wir hier Zukunft, Vergangenheit oder eine Parallelwelt sehen, ist unklar.

Viel mehr soll und kann dann auch nicht verraten werden – einerseits um nichts vorwegzunehmen, andererseits, weil sich weder Plot noch Inhalt einfach so zusammenfassen lassen.

Stimmungsvolle Sci-Fi-Welt

Viele Versatzstücke aus »Nod Away« wirken bekannt: die halböffentliche internationale Raumstation, die (in diesem Fall eher im Hintergrund stattfindende) Suche nach einem neuen Planeten als künftigen Lebensort für die Menschheit, die mit den Körpern der Menschen verschmelzende neue Technologie, die unheimlichen Zwischensequenzen des herumstreunenden einsamen Astronauten – solche Dinge kennt man aus diversen Sci-Fi-Blockbustern der letzten Jahre. Cotter nutzt diese und andere bekannte Topoi bewusst und erschafft so eine Welt, die sich gerade vertraut genug anfühlt, um die Leserin schnell in ihren Bann zu ziehen.

In dichten, eng schraffierten Schwarzweißbildern baut Cotter eine stimmungsvolle Welt auf. Von Beginn an gibt es einen leicht bedrohlichen Unterton, ein Gefühl des Unwohlseins, das auf die unvermeidbare Katastrophe am Ende verweist. Die Charaktere sind mit viel Liebe zum Detail gestaltet und gezeichnet, im Verlauf der Geschichte erweisen sie sich als vielschichtig und komplex. Die Seitenarchitektur trägt ein übriges zur immersiven Schlagkraft des Comics bei, sie ist je nach Situation strenger oder freier, eng oder weit.

Das Innernet. Eine Seite aus Nod Away vol. 1; © Fantagraphics/Joshua W. Cotter

Ein zentrales Thema sind die Verbindungen und Interaktionen zwischen Mensch und Maschine, bis hin zur Verschmelzung. Es geht um nicht weniger als die Frage danach, was Bewusstsein ist. Cotter hinterfragt menschliche Wahrheit und Wahrnehmung und verweist ohne Pathos zwischen den Panels auf etwas Großes, Unerkennbares, Unfassbares. Dieses Große wird der Kleinheit und Kleinteiligkeit der menschlichen Erfahrung entgegengestellt. Keiner von Cotters Protagonisten scheint zu wissen, was er oder sie eigentlich tut; auf der Integrity hängen sie nicht nur wort- sondern auch sprichwörtlich in der Luft, im zweiten Band verlieren sie sich in ländlichen Weiten. Cotter wechselt zwischen konkreter Erzählung, Traumsequenzen und absoluter Abstraktion und stellt auch so Grenzen zwischen Innen und Außen infrage. Allerhöchste Comic-Kunst.

Einen großen Teil des ersten Bandes kann man auf der Webseite Studygroup Comics lesen – wer also bequem von zuhause reinschnuppern will, kann das hier tun. Und das Buch dann gleich beim Comicdealer des Vertrauens (z.B. Pictopia in der Liechtensteinstraße) bestellen.

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