Ich wollte Whiskey trinken, rauchen und Schachspielen

Foto © Hermann Dieckmann

Im Jahr 2015 macht sich Kineke Mulder mit einem Schachbrett unter dem Arm und einem flauen Gefühl im Magen auf dem Weg zum Wiener Hauptbahnhof. Sie will die Menschen, die dort nach der Flucht vor Krieg und Gewalt gestrandet sind, zu einer Partie Schach einladen. Ob ihre Idee Anklang fand, was sie mit ihrem Verein Chess Unlimited erreichen will und warum sie sich selbst in das Spiel verliebte, erzählt sie uns in einem sehr persönlichen Gespräch.   


Anmerkung der Redaktion: Dieser Artikel erschien ursprünglich am 3. April 2020 auf unserer alten Homepage.

Er heißt Herman und ist Notar, ein Bekannter ihrer Mutter. In der einen Hand hält er ein halbvolles Glas Whiskey, mit der anderen – zwischen dem Mittel- und Zeigefinger eine glühende Zigarette – spielt er den nächsten Zug. Als die Figur auf dem Feld landet, gibt der Schachcomputer ein eindringliches Piepsen von sich. Die siebenjährige Kineke schaut zu und merkt sich jedes Detail. Sie hat längst begriffen, Herman ist anders als die anderen Erwachsenen. Er wirkt glücklich.

Wenn Kineke an die Gesichter der Kinder denkt, die ihre Papas, ins Spiel vertieft, das erste Mal seit langem gelöst und sorgenfrei sehen, dann kriegt sie noch heute Gänsehaut.

Daran erinnert sie sich Jahrzehnte später, als sie im Bus am Weg zum Hauptbahnhof ist, ein Schachbrett unter ihren Arm geklemmt. Es ist 2015, das Jahr in dem Tausende Flüchtlinge nach einem grauenhaften
Zwischenstopp in Órbans Ungarn in Wien stranden. Kineke will helfen, aber sie hat auch Zweifel: Ist das was sie vorhat, völlig weltfremd? Ist es anmaßend, Menschen, die gerade vor Gewalt und Krieg geflohen sind, zu einer Partie Schach einzuladen? Am Bahnhof angekommen dauert es keine fünf Minuten, bis sich der Erste zu ihr setzt. Wenn Kineke an die Gesichter der Kinder denkt, die ihre Papas, ins Spiel vertieft, das erste Mal seit langem gelöst und sorgenfrei sehen, dann kriegt sie noch heute Gänsehaut.

Und so ist Chess Unlimited geboren, Kineke Mulders Initiative für Schachevents, bei denen Geselligkeit im Mittelpunkt steht. Ziel ihres Schach-Cafés und ihrer Outdoor-Schach-Treffen ist es, „Menschen ein wenig aus ihrer Bubble zu holen. Ob Punk, Schüler, oder Businesswoman, wenn du so eine Lust auf das Spiel hast, dann vergisst du, wer dir gegenübersitzt.“ Damit die Leute das merken, muss man ihnen das Spiel aber anbieten. „Wenn deine Umgebung dir nicht sagt, das ist gut für dich, das ist schön, dann kommst du nicht hin. Eine Bücherei ist ja eigentlich auch für jeden da, aber du musst auf die Idee kommen hinzugehen, es muss dich jemand neugierig darauf machen. Wenn Schach sichtbar und frei zugänglich ist, dann gibt es gute Chancen, dass verschiedenste Personen vorbeikommen und es ausprobieren.“ So hat es schließlich auch bei ihr selbst angefangen.

„Was mich gewundert hat war, was die gesagt haben, wenn ich ab und zu gewonnen hab. Da hast aber a bissl a Glück gehabt, zum Beispiel.“

Kineke Mulder über manche Partien mit männlichen Gegnern

Die Stimmung im holländischen Groningen, wo sie aufwächst, beschreibt Kineke als „ein permanentes Sonntagsgefühl“. Der Calvinismus ist hier besonders lange hängen geblieben, die Leute sind nüchtern und
arbeitsam. „Es gibt so Redewendungen wie: Tu normal und du bist schon verrückt genug.“ Herman, der Notar, der so besessen vom Schach ist, dass seine Frau ihn erinnern muss zu essen und zu schlafen, fällt da ziemlich aus dem Rahmen. „Er war der erste Erwachsene den ich kennengelernt hab, der passioniert war,“ sagt Kineke heute. Als Kind zählt sie eins und eins zusammen: sie will auch glücklich sein, also muss sie eben Whiskey trinken, rauchen, und Schachspielen. Zumindest einer dieser Vorsätze erfüllt sich, erst beim Schulschach, später im Schachverein mit sieben Kindern unter 100 Erwachsenen. Kineke ist das einzige Mädchen. Hat sie das wirklich nicht gestört? „Mir war das eigentlich relativ wurscht, ob das nur lauter alte Männer waren. Was mich gewundert hat war, was die gesagt haben, wenn ich ab und zu gewonnen hab. Da hast aber a bissl a Glück gehabt, zum Beispiel.“ Sie schüttelt verwundert den Kopf und lacht.

Schachliebe / Foto © Kineke Mulder

Kineke ist nicht auf den Mund gefallen. Schlagfertig, offen und herzlich. Ein bisschen wie eine erwachsene Ronja Räubertochter. Als Kind ist sie mit ihrer Familie zehnmal umgezogen, das erfordert einiges an Anpassungsfähigkeit. „Ich glaub mir war das angeboren, ich fand es lustig, neue Stadt, neue Leute.“ Mit 19 landet sie in Wien, verliebt sich in einen Wiener Koch, dann in die Stadt selbst. „Besonders rund um den Westbahnhof mit Einsicht in die Mariahilfer Straße, die Ecke gefällt mir einfach.“ In ihr charmantes Deutsch mit dem weichen, holländischem Akzent haben sich einige Dialektwörter gemischt. Man spürt, sie mag die
Wiener*innen, und Menschen überhaupt.

Sie erzählt mir, dass sich Schach, das ursprünglich „Chatrang“ hieß, ausgehend von Indien über Persien verbreitete, und dann über den arabischen Kulturraum nach Nordafrika und über die Handelswege nach
Europa gelangte. Obwohl die Regeln weltweit gleich sind, gibt es durchaus kulturelle Unterschiede: was ursprünglich als Kriegselefant begann, ist im angelsächsischen Bereich der Bischof, in Frankreich der
Hofnarr und im deutschsprachigen Raum der Läufer. Kriegselefant? Kineke nickt, Schach begann ja eigentlich als Kriegsstrategiespiel, das gefällt ihr als überzeugter Pazifistin allerdings überhaupt nicht. „Aber deshalb spielen es die Leute ja nicht. Die mögen es, weil es ein schönes Logikspiel ist – Strategie ohne Krieg.“

„Nach der ersten Euphorie tut mir der Gegner oft leid. Aber das würd‘ ich mir gern noch ein bisschen abgewöhnen, nicht zu viel Mitleid zu haben. Das sollte wie Teflon von mir abrutschen.“

Kineke Mulder

Strategie und logisches Denken, so der britische Großmeister Nigel Short vor ein paar Jahren, sei ja nicht so die Stärke von Frauen. Zum Schach seien sie schlichtweg „nicht veranlagt“. So erklärt er sich zumindest, dass Schach nach wie vor eine Männerdomäne ist. (Als Short selbst gegen weibliche Großmeister wie Ju Wenjun und Judith Polgar verlor, war er hingegen eher wortkarg). Kineke war erst im vergangenen Dezember auf der London Chess Conference zum Thema „Female Empowerment“. Was sind ihrer Meinung nach die Gründe für das Genderungleichgewicht beim Schach? Zum einen fehle die gute Spitze, weibliche Dominic Thiems im Schach würden sicher Wunder wirken. „Außerdem wäre es sehr hilfreich, wenn es mehr weibliche Schachtrainer gäbe. Und es gibt bei den meisten Vereinen Luft nach oben was die Attraktivität ihrer Vereinslokale betrifft. Scheint so, als würden Männer das in der Regel weniger wichtig finden als Frauen. Geld allein ist auf jeden Fall nicht die Lösung.“ Bei ihren eigenen Events hat Kineke einen vergleichsweise hohen Frauenanteil. Das passiert ihrer Meinung nach ganz automatisch, wenn man Schach aus den Café-Hinterzimmern in die Gesellschaft hinausbringt.

Kineke selbst nimmt hier und da an Amateur-Turnieren teil, aber an der „ewigen Elo-Reiterei“ ist sie wenig interessiert. (Die Elo-Zahl gibt die Spielstärke von Schachspieler*innen an, ähnlich wie das Handicap beim
Golf). Zu dem Thema, findet Kineke, hat sie als Hobbyspielerin auch nicht viel zu sagen. Am Ende des Tages tut Verlieren immer weh, egal auf welchem Niveau. Aber das Schöne am Schach ist, dass du gleichzeitig gegeneinander und miteinander spielst: „Du hast eine Erzählung, eine Komposition gemacht – das was wir beide gespielt haben, das ist noch kein einziges Mal vorgekommen.“ Das Gewinnen zu genießen muss Kineke trotzdem noch üben. „Nach der ersten Euphorie tut mir der Gegner oft leid. Aber das würd‘ ich mir gern noch ein bisschen abgewöhnen, nicht zu viel Mitleid zu haben. Das sollte wie Teflon von mir abrutschen.“

Am Platz der Menschenrechte / Foto © Kineke Mulder

Abgesehen von der kurzen Schachpartie am Crosstrainer kommt Kineke selbst selten zum Spielen. Ihr Terminkalender ist voll. In einem regulären Jahr gibt es bis Juni zweimonatlich das Schach-Café im Foyer der Hauptbücherei, bei dem Schach-Interessierte jeden Alters jederzeit kostenfrei und ohne Anmeldung vorbeischauen können. Die Outdoor-Saison startet üblicherweise im Frühjahr: von Mai bis Oktober findet
viermal im Monat der „Schach Jour Fixe“ statt, bei dem am Platz der Menschenrechte unter freiem Himmel gespielt wird. Mittlerweile gehört Chess Unlimited dort zur Ausstattung dazu, genau wie die Straßenmusiker*innen und Touristenscharen.

Die Liebe zwischen Chess Unlimited und Wien beruht auf Gegenseitigkeit, und zwar so sehr, dass manche Reiseführer*innen die Schach-Events liebevoll-opportunistisch in ihre Stadtrundgänge integriert haben: „Look, here in Vienna, we play chess, we play music, we are very cultivated – I told you so!“ Kineke schmunzelt. Der raue Wiener Charme, die laue Sommerluft, der weiße Spritzer und Schach, das passt einfach. Es ist fast so, wie sie sich das als Kind vorgestellt hat.

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