Verliebt am Alsergrund

Die dem Roman seinen Namen gebende Stiege im 9. Bezirk. Fotocredit: Wikimedia / Welleschik

Heimito von Doderers Opus Magnum »Die Strudlhofstiege« ist nicht nur ein absoluter Klassiker der österreichischen Literatur, sondern auch die wahrscheinlich beste Seifenoper in Buchform, die ich jemals gelesen habe. Auf dieser literarischen Wanderung zwischen Alserbachstraße, Liechtenthal- und Boltzmanngasse ist man bald mitgerissen von den Irrungen und Wirrungen, die die Figuren durchleben.


Anmerkung der Redaktion: dieser Artikel erschien ursprünglich am 21. Januar 2021 auf unserer alten Homepage.

Doderersche Poetik

Etwas mehr als 900 Seiten umfasst der Roman, dessen Handlung die Jahre 1910-1911 und 1923-1925 umspannt. Im Zentrum der Erzählung steht der vornamenlose Leutnant respektive Major Melzer. Melzer ist einer, der »keinen Zivilverstand« hat, was sich vor allem darin äußert, dass er es nicht schafft, der Frau, die er jeweils begehrt, sein Interesse zu vermitteln oder, ganz allgemein, selbstständige Entscheidungen zu treffen. Erst im Laufe des Romans lernt Melzer, selbstbestimmt zu handeln und so glücklich zu werden. Das geschieht aber fast im Hintergrund, denn während Melzer über anderthalb Jahrzehnte und hunderte Buchseiten hinweg eben einen solchen »Zivilverstand« entwickelt, passieren in seinem Umfeld in der Wiener Hautevolée einige Irrungen, Verwirrungen, Intrigen und mehr oder weniger große Dramen, die oberflächlich mehr Aufmerksam von der Leserin erfordern als die leise Entwicklung der deklarierten Hauptfigur. Viel konkreter lässt sich die Handlung aber nicht zusammenfassen: Nicht umsonst stammt von Doderer der Ausspruch, ein »Werk der Erzählkunst« würde diese Bezeichnung umso mehr verdienen, »je weniger man durch eine Inhaltsangabe davon eine Vorstellung geben kann«. Um also zu verstehen, warum die »Strudlhofstiege« als einer der größten Beiträge zur österreichischen Literatur gilt (zurecht nämlich), muss man das Buch »leider« tatsächlich selbst lesen. 

Schicksalschläge, Heiratsanträge und sonstige Verirrungen

Eine Klammer um die Handlung bildet ein Schicksalsschlag von Melzers Bekannter (und früherem Love-Interest) Mary K.: Ein tragischer Straßenbahnunfall im Jahr 1925, bei dem sie ihr Bein verliert, wird bereits auf der ersten Seite vorweggenommen und stellt 843 Seiten später einen wichtigen Wendepunkt im Leben Melzers dar. 
Ein zweiter Fokuspunkt ist ein Tag im Hochsommer 1911, an dem die Gesellschaft, in der Melzer sich bewegt, in Aufruhr gerät, weil ein Konsularschüler auf einer Gartenparty heimlich die Tochter eines Oberbaurats küsst, was leider nicht geheim bleibt, da eine eifersüchtige Nebenbuhlerin dies beobachtet obwohl die beste Freundin Wache steht, wobei der Bruder dieser Freundin wenig später mit der Nebenbuhlerin anbandelt. Verwirrt? Verständlich. Die »Strudlhofstiege« ist im Prinzip eine Seifenoper, die die unterschiedlichen und wechselhaften zwischenmenschlichen Relationen verhandelt, im Zentrum steht das klassische »Wer mit Wem«. Und das macht richtig Spaß. Die entwicklungsromanhafte Veränderung Melzers ergänzt diese »Gute Zeiten, Schlechte Zeiten« des frühen 20. Jahrhunderts. Tatsächlich ist aber nicht nur Melzer der hauptsächliche Protagonist, sondern gewissermaßen auch die namengebende Strudlhofstiege im 9. Wiener Gemeindebezirk, die bekanntermaßen die Strudlhofgasse mit der Pasteurgasse verbindet, und als architektonisches Glanzstück gilt. Sie ist ein neuralgischer Punkt, an den die Figuren immer wieder zurückfinden.

Sprachspaß mit Doderer

Der Beginn des Romanes ist zäh, man muss sich durchquälen. Doderers blumig-verspielte Sprache wehrt sich dagegen, rasch erfasst zu werden; dazu treten auf jeder Seite gefühlt zehn neue Figuren auf, die alle irgendwie miteinander sowie mit den bereits eingeführten Figuren verbandelt sind. Dieses Netz an Beziehungen zu überblicken ist anfangs quasi unmöglich. Außerdem springt die Erzählung ständig zwischen den beiden Zeitebenen hin und her, was das ganze noch verwirrender macht. Nach etwa 200 Seiten hat man sich aber an den sperrigen Stil nicht nur gewöhnt, sondern kann ihn so richtig genießen. Doderers umständlich-süffisanter, humorvoll-intellektueller Sprachstil macht großen Spaß. Dazu kommen natürlich die, mit den Augen eines Menschen des 21. Jahrhunderts gelesen, etwas altertümlich wirkenden Formulierungen, die das Ganze noch charmanter machen. Zwischendurch droppt Doderer echte Truth Bombs, wenn er etwa sagt »jeder Mensch erscheint seiender, als er ist«. Bäm.

Eines ist auf jeden Fall sicher: »Die Strudlhofstiege« ist ein Buch, das man mehr als einmal lesen muss, um seine volle Wirkung erfahren zu können.

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