Wien (ge)lesen

Grafik © Julia Herrele

Wien in der Literatur, die Literatur in Wien. Wir begeben uns auf die Spuren dieser Beziehung. Tauche mit ein, lies Bücher mit uns und finde die Straßen wieder. Zum Beginn: Wie schaut das Verhältnis zwischen Literatur und Wien eigentlich aus?


Anmerkung der Redaktion: dieser Artikel erschien ursprünglich am 26. Januar 2021 auf unserer alten Homepage.

Wien ist ausreichend als Kulturstadt bekannt, als dass dieser Ruf verteidigt werden müsste. Nachdem der Ruf alleine aber nicht immer genügt, wollen wir uns in einem neuen Projekt auf die Spuren des literarischen Wien machen. Immerhin gibt es hier nicht nur Straßen, die nach Autor:innen benannt sind, sondern auch Bücher, die nach Straßen benannt werden. Genau das führt aber zu einem Übermaß an Literatur, eine vollständige Aufzählung wäre kaum möglich. Also der Reihe nach.

Kultur ja, Literatur erst später

Wer etwas über die Literaturgeschichte Wiens sucht, wird zuerst ins Mittelalter verwiesen. Zugegebenermaßen ist mittelalterliche Literatur nach heutigen Maßstäben nicht allzu interessant, außerdem sind die Spuren dorthin eher vage. Bei aller Liebe zur Stadt, die mittelalterliche Vergangenheit ist doch eher schon weit weg und trotz des guten Rufes war da noch keine Rede von Wien als Kulturzentrum. Das hat sich in der Musik rascher entwickelt als in der Literatur, aber grob um 1800 herum hat es sich definitiv gezeigt.

Ironischer- oder vielleicht logischerweise haben die Engstirnigkeit der Weimarer Klassik und die zugehörige Zensur das Volksstück als Literaturgattung in Wien stark befeuert. Unter den Einschränkungen Metternichs haben Grillparzer, Nestroy und Raimund in großem Stil mit Gesellschaftskritik begonnen, bis heute halten sich einige dieser Stücke und werden immer wieder neu interpretiert. Vor einigen Jahren wurde im „Lumpacivagabundus“ beispielsweise die gute Fee Fortuna als Anspielung auf Angela Merkel dargestellt. Nestroy und Raimunds gemeinsame Werke zählen bis heute als der Höhepunkt dieser Alt-Wiener-Klassik. Grillparzer zählt im Gegensatz zu den fröhlich-überdrehten Unterhaltungsstücken als „Inbegriff der altösterreichischen Problematik zwischen leidenschaftlicher Phantasie und menschenscheuem Raunzertum“. Er hat in seinen Stücken einen ähnlichen Konflikt, den die ganze Welt noch heute auslebt: Multikulturalität, wie sie in der Habsburgermonarchie gelebt wurde und Angst vor aufkeimendem Nationalismus. Wie die Geschichte einmal ausgegangen ist, wissen wir. Aktuell gibt aber zumindest das Ende von Trumps Amtszeit ein kleines bisschen Hoffnung auf eine bessere Entwicklung.

Unverändert bleibt, wie die drei Autoren im Wiener Straßenbild verewigt sind. Die Grillparzerstraße im ersten Bezirk ist die unbekannteste, spannenderweise gab es mehrere Straßen, die nach ihm benannt waren, mit der Eingemeindung der Vorbezirke wurden sie aber umbenannt, damit es nicht mehrere von ihnen gibt. Der Nestroyplatz ist mit der Erwähnung im U-Bahn-Plan wohl der bekannteste und Raimund hat in seinem Heimatbezirk Mariahilf ein eigenes Theater, das 1893 mit seinem Stück „Das entfesselte Zauberspiel“ eröffnet wurde.

Anstelle der Autoren wird diese erste Hochzeit der Wiener Bühne aber eher an Friedrich Halm festgemacht, der als Direktor des Burgtheaters für einige dieser Erfolge verantwortlich war. In starkem Kontrast dazu steht Adalbert Stifter, dessen Werk den Abschluss des von Metternich geprägten Biedermeier darstellt. Stifters Lyrik fällt im Gegensatz zu den Lustspielen nämlich eher unter die Kategorie „deprimierend“, das kann aber auch einfach als persönliche Meinung der Autorin auf der Basis seiner Steine gewertet werden.

Ende der Zensur, Anfang der Kunstfreiheit

Mit der Revolution und der Absetzung Metternichs begann ab 1848 die Wiener Blüte. Zuerst im Theater und dann im Kaffeehaus entwickelte sich die bis heute nachwirkende Intellektualität, von der die Stadt zehrt. Die Stadtmauer wurde abgetragen, der Ring mit all seinen Prunkgebäuden wurde errichtet und Kunst, Wissenschaft und Literatur wurden über die Reichsgrenzen hinaus gefeiert.

Anastasius Grün (nachdem ebenfalls eine Gasse benannt ist), Grillparzer, Friedrich Gerhard und M. G. Saphir feierten den Tod der Zensur. Die Texte spalteten sich zwischen den Resten des Biedermeiers, Realismus und Anlehnungen an die deutsche Romantik. Als Vorreiterin im Realismus tat sich Marie von Ebner-Eschenbach hervor, allerdings musste sie rund zwanzig Jahre erfolglos Theaterstücke schreiben, ehe sie für ihre Kurzgeschichten Anerkennung erhielt.

Auch realistisch, aber unterhaltsamer sind die Stücke von Anzengruber, der 1870 mit dem Pfarrer vom Kirchfeld seinen Durchbruch hatte. Sein Ruhm währte aber nur kurz, mit abnehmender Zensur in Europa waren seine Stücke bald nicht mehr große Aufreger. Stattdessen war er ab 1888 im Volkstheater angestellt und damit in die bürgerliche Szene integriert. Die war zu dieser Zeit aber ohnehin schon fast weiter gewandert und zwar eben in die Kaffeehäuser.

Kaffeehausliteratur und die junge Revolution

Dort bildete sich ab rund 1880 um Richard Beer-Hofmann, Hugo von Hofmannsthal, Arthur Schnitzler, Felix Salten, Helmut Bahr, Karl Krauss und Alfred Kubin eine Gesellschaft an Literaten. Ebenso gehörten Friedrich Torberg, Rainer Maria Rilke, Max Winter, Egon Erwin Kisch und Egon Friedell oder Leo Perutz dazu. Eine gesamte Aufzählung bringt aber eigentlich gar nichts, da würden nur die Werke untergehen.

Also die Kurzfassung: das Cafe Griensteidl am Michaelerplatz hatte mit Helmut Bahr den Mittelpunkt und 1890 markierte den Beginn der Wiener Moderne. Zeitschriften wurden neugegründet, Gedichte und Feuilletons ohne Ende geschrieben. Die 90er waren dann die Hochzeit von Hofmannsthal, dessen bekanntestes Erbe die Salzburger Festspiele sind, Arthur Schnitzler, dessen „Zwischenspiel“ vergangenes Jahr in der Josefstadt neu inszeniert wurde, oder Felix Salten, der mit „Bambi“ ein Erbe hat, dass für gar nicht so viele Menschen ein literarisches ist.

Viele kennen wohl die Problematik, wenn ein Lieblingslokal zusperrt, und ähnlich erging es der Runde als das Griensteidl 1897 geschlossen wurde. Wie so oft übernahm damit wieder die nächste Generation und der Schwerpunkt verlagerte sich vor ins Cafe Central in der Herrengasse. Karl Kraus hatte schon zuvor Bahr verspottet und prägte mit der Zeitschrift „Die Fackel“ ab 1899 die folgende Literatur. Ebenso persönlich geprägt, aber Kraus‘ Essays besonders über die Sprache sind heutzutage eher schwierig zu lesen und strotzen vor Selbstverherrlichung. Andererseits: jemand muss den alten Dingen sagen, dass sie veraltet sind, damit sich etwas ändert.

Zeitschriften und Literaturwachstum

Die weite Verbreitung der Zeitschriften brachte nicht nur die Literatur voran, sondern auch der Journalismus erlebte rund um die Jahrhundertwende eine Blüte. Egon Erwin Kisch und Max Winter trugen mit ihren Aufdeckungsreportagen zur Entstehung des Investigativjournalismus bei, am bekanntesten ist wohl der Fall des Oberst Gustav Redl.

Zusätzlich erwähnt werden sollte jedenfalls noch Friedrich Torberg, der mit der „Tante Jolesch“ das Bild gemalt hat, das bis heute die Vorstellung der Wiener Kaffeehauskultur geprägt hat. In eine ganz andere Kategorie als den verbreiteten Realismus der Zeit fällt Alfred Kubin, der mit „Die andere Seite“ eine wunderschöne Utopie schrieb, die ihren Ausgang im damaligen Salzburg genommen hat. Nur fünf Jahre nach dem Buch hat der erste Weltkrieg die gesamte Welt ruiniert und komplett neue Vorlagen für Literatur geschaffen.

Während des Weltkriegs hatten viele Schriftsteller:innen Probleme unterzukommen, die Mehrheit war für das Propagandaministerium tätig. Heraus gestochen ist Alice Schalek, die als eine der wenigen Frauen von der Front berichtete. Karl Kraus verewigte sie in „Die letzten Tage der Menschheit“, dem Weltenepos, mit dem er ein starkes Zeichen gegen den Krieg setzen wollte. Er war einer der wenigen, die schon während des Weltkriegs Stimmung dagegen machten, die Verzweiflung wurde nach dessen Ende nur noch stärker. Mit dem Zerfall des Reiches änderte sich auch die Gesellschaft gänzlich, viele mussten ihre Themen neu definieren. Aus einer Nostalgie über das Ende der Monarchie heraus entstanden beispielsweise „Radetzkymarsch“ von Josef Roth oder der „Mann ohne Eigenschaften“ von Robert Musil – beides Bücher, die im Rahmen unserer Serie wohl vorkommen werden.

Endlich wieder was zum Lachen

Auf alles Schlechte folgt aber auch was Gutes und der Wiener neigt ja bekanntlich zum Galgenhumor. Also entstanden nach dem Krieg auch die ersten Kabaretts wie das Simpl. Das Ausweichen auf die Bühne war wohl auch nötig, weil viele Schriftsteller aus den Erfahrungen des Krieges heraus starke sozialistische Motive hatten und nach mehr Demokratisierung verlangten. Schwierig für den Fortbestand war, dass die meisten der Kabarettisten Juden waren. Gemeinsam mit den sozialdemokratisch eingefärbten Literaten begann bald darauf also der Auszug der geistigen Elite Österreichs, wer blieb, produzierte aufgrund der Zensur nur noch für die Schreibtischlade.

Ende und Auferstehung in der Revolution

Neben den gezählten (und ungezählten) Toten bedeutete der zweite Weltkrieg auch ein zwischenzeitliches Ende der Literatur in Österreich. Mit den Trümmern wurden auch vergangene Schätze ausgegraben, so wurde nach dem Weltkrieg erst Franz Kafka entdeckt. Ebenso aus den Trümmern entstand die Gruppe 47, auch wenn deren Schwerpunkt in Deutschland war. Mit Ilse Aichinger, Ingeborg Bachmann, Heimito von Doderer und Paul Celan war Österreich aber auch dabei wieder eine literarische Szene aufzubauen, manche der Autor:innen waren auch in der Gruppe 47 vertreten.

Grafitti mit Ingeborg Bachmann von Jef Aerosol am Musilhaus in Klagenfurt (Ausschnitt), via WikiCommons

Wie vieles andere wurde damit auch die Literatur weiblicher, noch größer war der Bruch, der eine neue Direktheit bedeutete. Doderer beispielsweise war bis zu einem gewissen Grad aber doch der früheren Literatur verbunden – immerhin hat auch er Wien ins Zentrum gestellt und mit „Die Strudelhofstiege“ wiederum die Stadt verewigt. Und genauso wie die Literatur konnte auch das Kabarett mit dem Rückkehrer Karl Farkas und Helmut Qualtinger wieder auferstehen.

Die Wiener Gruppe

Teilweise mit denselben Mitgliedern wandelte sich der österreichische Ableger der Gruppe 47 in die „Wiener Gruppe“. Wiedersehen mit Altbekannten gab es unter Anderem durch Alfred Kubin, der mittlerweile zur bildenden Kunst gewechselt hatte, Gerhard Rühm und HC Artmann bildeten der Kern der Gruppe. Ebenfalls in alter Tradition war der Treffpunkt ein Kaffeehaus, das Cafe Glory gegenüber der Universität. Wieder ist die Literatur ein Stück aus der Innenstadt weggezogen, ähnlich entfernten sich die Texte vom Realismus. Friedrich Achleitner, Ernst Jandl oder Friederike Mayröcker wurden ebenfalls ein Teil davon, wobei die letzteren lange miteinander lebten und schrieben.

Alle früheren Versuche von Revolution wurden damals als lächerlich gebrandmarkt, frühere Neuerfindungen von Literatur verloren neben der Streichung von Groß- und Kleinschreibung ihre Extremität. Ernst Jandl war etwa einer, der so schrieb, gleichzeitig hat er mit seinem Gedicht „wien: heldenplatz“ thematisch eine Vorlage für Thomas Bernhard geschaffen.

Zeitgeist: Untergang und Anerkennung

Wie in Deutschland gab es immer mehr Protest gegen die österreichische Gesellschaft, besonders die mangelnde Aufarbeitung des Nationalsozialismus führte zu Kritik.

Möglicherweise wurde dies durch die neue Entstehung jüdischer Literatur in Wien befeuert, Robert Menasse oder Doron Rabinovici etwa zählten dazu. Der Nationalsozialismus wurde aber nicht nur von jüdischen Autor:innen behandelt, auch Thomas Bernhard gehörte durch die Aufarbeitung seiner Jugend in NS-Einrichtungen dazu. Neben seiner Kritik am Staat gab es auch viel Kritik an ihm, meist wurde er als Nestbeschmutzer bezeichnet, mit „Heldenplatz“ sorgte er Mitte der 80er für neue Ausmaße an Entrüstung.

Thomas Bernhard via WikiCommons

Neue, aktuelle Welle

Ab den 80er/90ern kam es zu einer neuen Welle der Erneuerung in der Literatur, wieder übernahm eine junge Generation. Inhaltlich spiegelte sich das darin, dass nicht mehr nur die nationalsozialistische Vergangenheit aufgearbeitet wurde, sondern auch das Wiedererstarken von rechtem Gedankengut – etwa mit Josef Haslingers „Opernball“ in dem in den 90ern die Vermischung von rechter Politik mit Anschlägen ein dystopisches, aber nicht ganz unrealistisches Bild des österreichischen Gedankenguts zeichnet.

In der gleichen Tradition der Wiener Gruppe und der Nestbeschmutzung wurden Elfriede Jelinek und Peter Handke bekannt, die mit dem Erhalt des Nobelpreises die österreichische Literatur auf eine neue Stufe hoben. Zugegebenermaßen sind die Werke der beiden nicht nur als Nestbeschmutzer:innen verrufen, sondern werden immer wieder als verkopft und lebensfremd gegenüber dem Publikum kritisiert.

Da hat es die Literatur, die auf die breite Masse der Bevölkerung abzielt, schon einfacher, wobei das definitiv nichts Schlechtes ist. Die letzten zwanzig, dreißig Jahre waren in diesem Bereich beispielsweise geprägt von Autor:innen wie Thomas Glavinic, Michael Köhlmeier, Daniel Kehlmann, Wolf Haas, Arno Geiger, Marlene Streeruwitz oder Marlen Haushofer. Welche dieser Schriftsteller:innen ähnliche literarische Auswirkungen haben werden, wie sie die Literat:innen der Jahrhundertwende vollbrachten, wird aber nur die Zukunft zeigen können. Und ob sie sich ebenfalls im Straßenbild verewigen, ist auch eine Frage der Zukunft, immerhin dürfen Straßen nur nach Toten benannt werden.

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